Maxim Harezki, "Zwei Seelen". Aus dem Weißrussischen von Nobert Randow, Gundulua und Waldimir Tschepego. € 20,- / 224 Seiten, Guggolz-Verlag, Berlin 2014

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Auf der Landkarte der europäischen Literatur gibt es wenige Gebiete, die so unbekanntes Gelände geblieben sind wie Belarus. Hundert Jahre nachdem die von ihren Protagonis- ten sogenannte "weißruthenische Wiedergeburtsbewegung" an die reiche Tradition weißrussischer Kultur erinnern und dieser zu Anerkennung und Wertschätzung verhelfen wollte, ist deren Lage immer noch prekär: Kaum einen anderen Staat gibt es, dessen führende Repräsentanten die Landessprache selbst nicht schätzen, die eigene Nationalität für eine Marotte gefährlicher Oppositioneller halten und immer wieder damit liebäugeln, dass ihr Land als privilegierte Provinz im Reich des großen Nachbarn aufgehen möge.

Die Bestrebung, die belarussische Sprache zum Dialekt des Russischen zu erklären und Belarus selbst als Teil des großen Russland zu sehen, kehrt in der Geschichte des Landes immer wieder, und zwar meistens als Ideologie der jeweils herrschenden Schichten: einst von den Bolschewisten, die die weißrussische Nationalität als reaktionäres Trugbild bekämpften, jetzt von den staatstragenden Kreisen um den Präsidenten Lukaschenko, die auf eine so enge Zusammenarbeit mit Russland setzen, wie sie dort nicht einmal der neue Zar mit seinen großrussischen Ambitionen anstreben würde.

Der 1893 in einem weißrussischen Dorf geborene Maxim Harezki war einer jener Intellektuellen, der für die ruthenische Nationalbewegung einstand und dafür einen bitteren Preis zahlen musste. Sein erstes Buch erschien noch vor dem Ersten Weltkrieg, den er als Offizier der russischen Armee mitmachte, sein bedeutender Roman Zwei Seelen kam kurz nach dem Krieg in Vilna heraus, wie die litauische Hauptstadt von ihren auch heute noch zahlreichen weißrussischen Bewohnern genannt wurde. Danach publizierte er viele Zeitungsartikel, verfasste die erste belarussische Literaturgeschichte und gab das enzyklopädische Lesebuch der belarussischen Literatur - Vom 11. Jahrhundert bis 1905 heraus. 1930 wird er, mittlerweile Lehrer in Minsk, verhaftet und in die sibirische Verbannung geschickt. Den stalinistischen Säuberungskampagnen ab Mitte der 1930er fiel die weißrussische Intelligentsia aus Lehrern, Künstlern, Wissenschaftern fast vollzählig zum Opfer, und als einer von Abertausenden wurde 1938 auch Maxim Harezki vor sein Hinrichtungskommando gestellt.

Suche nach Identität

Zwei Seelen ist ein Roman, der vom Weltkrieg, dem Zusammenbruch der alten Ordnung, der chaotischen Zeit zwischen den Zeiten und dem Versuch der Protagonisten erzählt, ihre Identität neu zu entwerfen, um für sich in der veränderten Welt einen Platz zu finden. Der junge Offizier Ihnalik befindet sich nach Jahren an der Front zur Erholung in einem Lazarett in Moskau, dann in einer Kurstadt im Kaukasus. Er stammt von Gutsbesitzern ab, möchte bei den einfachen Leuten aber wie jemand wirken, "der zwar ein Offizier sei, aber aufseiten des Volkes stehe". Zufällig begegnet ihm in Moskau sein Milchbruder Wassiljok, der Sohn seiner Amme, an deren Brüsten er vor zwanzig Jahren nach dem Tod der Mutter wieder zu Kräften gelangt ist.

Wassiljok ist Bolschewist und willens, "den Sturm der Revolution" aus der russischen Metropole in die weißrussischen Dörfer hinauszutragen. Die Konstellation - zwei Freunde von klein auf, die Angehörige verschiedener Klassen sind - nützt Harezki, um seine Themen zwiefach durchzuspielen: Was erwarten, ersehnen sich der Landarbeiter und der Gutsbesitzer, der einfache Soldat und der Offizier für ihr Leben, für ihr Land? Dass die alte Ordnung bestehen bleibe, ist ausgeschlossen, selbst die Oberschicht möchte nicht mehr leben wie vorher. Ist die kommunistische Revolution das Ziel, oder geht es darum, dass die Belarussen endlich einmal Herr im eigenen Haus werden?

Der Titel Zwei Seelen bezieht sich aber nicht auf Wassiljok und Ihnalik, die sich in ihren politischen Ansichten und sozialen Forderungen immer näher kommen, sondern auf Ihnalik, der mit sich selbst im Widerspruch liegt. Er sehnt sich nach der kleinen Welt der Provinz und fühlt sich doch in den großen Städten wohl: "Das Dorf ... Sind wir getrennt, habe ich Sehnsucht, sind wir beisammen, fühle ich mich beengt." Hört er, dass jemand die Weißrussen für rückständig, provinziell, ungebildet hält, träumt er sogleich davon, dass auch sie sich verspätet endlich ihr eigenes Staatswesen erkämpfen und eine national gefärbte Aufklärung das ganze Land erfasse. Gerät er in Versammlungen ruthenischer Propagandisten, fragt er sich hingegen, was er hier solle und ob es nicht ausreiche, ein guter, aufgeklärter Russe zu sein.

Im zentralen zehnten Kapitel führt Harezki eine fiktive Gestalt ins Geschehen ein, den gedemütigten, getretenen, ewig um seine Würde ringenden weißrussischen Untertan. Über die Jahrhunderte hat er für die Zaren "ganz Mittelasien erobert", die "Brüder auf dem Balkan vom türkischen Joch befreit", überall "Eisenbahndämme aufgeschüttet und, wo immer es möglich war, außer in der eigenen Heimat, in den Bergen nach Erz geschürft und aus fauligen Mooren das Wasser" abgeleitet. Jetzt will der Untertan kein Untertan mehr bleiben; aber er weiß nicht, wohin er sich wenden soll, und insgeheim muss er sich eingestehen, dass ich "jeder beliebigen Partei voller Aufrichtigkeit angehören" könnte. Zu Kriegsbeginn empfand er sich als russischer Patriot, dann wurde er bolschewistischer Agitator, jetzt fragt er sich, ob es nicht an der Zeit sei, dass die weißrussischen Bauern und Arbeiter nicht für fremde Herren und Ideologien schuften, sondern die Dinge zu Haus in eine bessere Ordnung bringen.

Harezki erzählt bedachtsam und ruhig von einer Ära der Unruhe. Manches, was er seine Figuren im Widerstreit mit sich und anderen debattieren lässt, klingt, als wäre es für heute gesprochen. Sein Roman ist von dem legendären Norbert Randow, der einst das erste weißrussische Buch ins Deutsche übertrug, noch kurz vor seinem Tod in eine gültige Fassung gebracht worden. Verspätet für den deutschen Sprachraum entdeckt, wird Zwei Seelen nun in einer mustergültigen Edition, zu der auch zwei instruktive Nachworte von Martin Pollack und Andreas Tretner gehören, aufgelegt. Man wird diesen Roman künftigen jenen Werken der europäischen Literatur zur Seite stellen müssen, die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und Verhängnisse zu ergründen versuchen, den Romanen von Joseph Roth, Ludwig Winder, Jaroslav Hasek, Miroslav Krleza, Józef Wittlin ... (Karl-Markus Gauß, Album, DER STANDARD, 20./21.12.2014)