Rotraud Perner ist Psychoanalytikerin und leitet das Institut für Stressprophylaxe und Salutogenese in Wien. Ihr neuestes Buch "Der einsame Mensch" (Amalthea-Verlag 2014, 245 Seiten, 22,95 Euro) beschäftigt sich mit den Facetten des Alleinseins in der Gesellschaft.

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Zusammen aber doch allein: "Keine genauen Vorstellungen haben, hilft um Streit zu vermeiden", sagt Psychotherapeutin Rotraud Perner.

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STANDARD: Warum ist die Weihnachtszeit für Menschen, die wenig soziale Kontakte haben, nur so schwer zu ertragen?

Rotraud Perner: Weil schon den ganzen Advent über Familie als das Größte und Beste und Wichtigste aufgebauscht wird. Es ist so etwas wie die Idealvorstellung von Glück. Für alle, die diesem Bild nicht entsprechen, ist der Unterschied zum eigenen Leben dann umso schwerer zu ertragen. Dass das alles nur eine Inszenierung von Film und Fernsehen ist, wird dann gar nicht mehr wahrgenommen. Zu Weihnachten werden Scheinideale gelebt.

STANDARD: Warum Scheinideale?

Perner: Weil doch vor allem Weihnachten überhaupt nichts mit Ruhe und Frieden zu tun hat. Es ist die stressigste Zeit im Jahr. Geschenke ausdenken, kaufen, dazwischen die diversen Weihnachtsfeiern und dann sollte man ja auch den Heiligen Abend organisieren und Essen für drei Feiertage einkaufen und vorbereiten. Advent ist eine wirklich belastende Zeit ist, das erlebe ich in bei meinen Klienten und Klientinnen jedes Jahr vor Weihnachten wieder.

STANDARD: Mit welcher Konsequenz?

Perner: Sprengstoff für den Heiligen Abend. Eclats sind sehr häufig. Psychiater, Psychotherapeuten und Psychologen haben nach Weihnachten immer sehr viel zu tun. Den Druck, dass alles schön, friedlich und harmonisch sein soll, halten viele einfach nicht aus. Und Stress lässt Konflikte auch viel schneller eskalieren. Dazu kommt die extrem hohe Alkoholbelastung.

STANDARD: Sie meinen am Heiligen Abend?

Perner: Ja auch. Ich meine aber auch die Geschenke. Alkohol und Süßigkeiten sind in gewisser Weise ja Antidepressiva. Viele Menschen, denen nichts anderes einfällt, schenken Schnaps oder Schokolade. Es gibt immer viele sturzbetrunkene Menschen in der Weihnachtszeit.

STANDARD: Warum wollen vor allem ältere Menschen oft lieber alleine feiern?

Perner: Weihnachten ist so etwas wie eine Zäsur im Jahr. Da wird Bilanz gezogen, man hofft, dass das nächste Jahr besser wird. Je älter jemand wird, umso größer sind auch die persönlichen Verluste. Freunde sterben, vielleicht auch Familienmitglieder, und die vermisst man zu Weihnachten dann am meisten. Weihnachten ist Krisenzeit.

STANDARD: Aber oft kommen ja kleine Kinder neu dazu?

Perner: Ja, das stimmt. Für sie ist Weihnachten herrlich, weil sie keine Negativerfahrungen damit verbinden. Es ist der Abend, an dem es Geschenke gibt. Das einzige Problem für die Kinder kann sein, dass sie die Geschenke dann in der Schule vergleichen und dort enttäuscht sind.

STANDARD: Haben Sie Tipps für einen entspannten Heiligen Abend?

Perner: Ja. Keine Erwartungen haben und das Ideal der Gemeinsamkeit nicht zu hoch halten. Denn Konflikte entstehen oft dann, wenn eine Person denkt: "So und genau so sollte es sein." Diese Forderung kann andere überfordern. Deshalb rate ich, auf sämtliche Forderungen zu verzichten, dafür aber Wünsche und Bitten zu formulieren. Nach dem Muster: "Ich wünsche mir, dass".

STANDARD: Kann aber auch schief gehen?

Perner: Ja, wegen der Geschlechterdifferenz. Männer verstehen Wünsche, die Frauen äußern, oft als Befehle. Das ist wissenschaftlich sogar recht gut untersucht.

STANDARD: Ist Sozialsein Erziehungssache?

Perner: Total. Die Eltern haben Vorbildwirkung, sind die Modelle für die Kinder. Sozial sein heißt ja auch viel Selbstbeherrschung. Wenn einen ein anderer ärgert, dann muss man das ja nicht immer sofort äußern und seinen Willen durchsetzen. Unter Stress ist die Beherrschung natürlich noch einmal schwieriger.

STANDARD: Ist Sozialsein auch eine Charakterfrage?

Perner: Das ist eine 13-er Frage. Ich denke, dass es bis zu einem gewissen Grad auch eine Charaktersache sein kann. Aber das Leben verläuft in Phasen. Ein lebendiger Mensch ist immer verschiedenen Strömungen ausgesetzt, es ist ein Wechselspiel. Eine Balance zwischen Geselligkeit und Rückzug zu finden, ist eine Lebensaufgabe. Wir sind von unserer Natur her aber ganz sicher ein soziales Wesen.

STANDARD: Warum ziehen sich viele Menschen zurück?

Perner: Weil viele denken, dass alles von außen kommt, und man kaum etwas dafür machen muss. Auch das suggerieren Hollywoodfilme. Kontakt mit anderen muss man üben. Es ist eine Herausforderung für unser Gehirn. Das kann man sich fast wie einen Muskel vorstellen, den man ja auch trainieren muss. Für alte Menschen ist das besonders schwer. Ihre Freunde sterben, gemeinsame Biographien brechen weg. Sie fühlen sich verlassen. Zudem gibt es den Faktor der Altersdominanz.

STANDARD: Was ist Altersdominanz?

Perner: Ein Generationenproblem. Respekt war früher ein eiserner Erziehungsgrundsatz. Sich älteren gegenüber unterzuordnen war eine Geste, die nie in Frage gestellt wurde. Das ist heute nicht mehr so, weil sich diese starren Muster aufgelöst haben. Die Jungen begegnen den Alten auf Augenhöhe. Das kann natürlich ein Konfliktstoff sein. Es ist sicherlich nicht die Aufgabe von Erwachsenen und älteren Menschen, die Jungen zu beherrschen. Das führt nur zu einem Aufeinanderprallen der Generationen.

STANDARD: Was empfehlen Sie Ihren Klienten in schwierigen Familienkonstellationen?

Perner: Wie gesagt: Keine Erwartungshaltung an andere, keine zu genauen Vorstellungen davon, wie etwas sein sollte. Am Heiligen Abend und danach. Das fällt Menschen, die viel alleine sind, besonders schwer. Respekt anderen gegenüber muss trainiert und geübt werden, ein kritischer Austausch mit anderen, bei dem man auch mangelnden Respekt an sich selbst aushalten kann, kann man mit den Jahren auch verlernen. Und schön ist, wenn man es schafft, dass Weihnachtsfest mit den Menschen zu verbringen, die einem am liebsten sein. Das müssen nicht unbedingt die Verwandten sein. Im Englischen gibt es den schönen Ausdruck "family of choice". Das sind Menschen, die man sich ausgesucht hat. Erfahrungsgemäß sind in solchen Konstellationen Konflikte selten. (Karin Pollack, derStandard.at, 16.12.2014)