Zenashs Finger fahren bedächtig auf einer schwarzen Tafel hin und her. Konzentriert versucht sie den richtigen Buchstaben zu erfühlen. Ein A, ein B, ein C. Zenash wiederholt das, was sie in Brailleschrift schon gelernt hat. Neben ihr sitzt Abaynesh Zewdea, die geduldig Zenashs Hände an die richtigen Stellen des Tableaus führt und sie anleitet. Zweimal in der Woche kommt sie das 13-jährige Mädchen in der äthiopischen Stadt Ambo besuchen, um mit ihr zu lernen und physiotherapeutische Übungen für die rechte Hand durchzuführen.

Von Dämonen besessen

Eine schwere Tuberkulose-Infektion im Alter von vier Jahren löste Zenashs Blindheit aus. Der Weg zurück zu einem selbstbestimmten Leben ist mühsam und beschwerlich. Denn in vielen ländlichen Gegenden Äthiopiens ist die Bevölkerung davon überzeugt, dass behinderte Menschen von Dämonen besessen sind. Außerdem herrscht der Glaube vor, dass viele Behinderungen durch Menschen mit dem "bösen Blick" (evil eye) ausgelöst werden. Die Betroffenen werden aus diesen Gründen dann versteckt und weggesperrt. Viele von ihnen sterben jung, Zugang zu medizinischer Hilfe geschweige denn Bildung erhalten sie kaum.

Eltern mit ihrer blinden Tochter Zenash Megressa vor ihrem Haus im äthiopischen Ambo.
Aleksandra Pawloff

Selbst Zenashs Vater, Bulecha Megressa, ein angesehener Lehrer in Ambo, konnte und wollte am Anfang das Schicksal seiner Tochter nicht aktiv in die Hand nehmen. Er brachte seine Tochter zu heiligen Quellen, in der Hoffnung, sie vom "Teufel" befreien zu können. Als das alles nichts half, trat die Resignation ein. Zenash wuchs weitgehend isoliert von ihrer Umwelt auf.

Als eines Tages Menschen vom lokalen Rehabilitationsteam an die Tür klopften, um seiner Tochter und seiner Familie Hilfe anzubieten, schickte Zenashs Vater sie weg. "Ich habe geglaubt, sie arbeiten als verdeckte religiöse Organisation und wollen bei uns missionieren", erklärt er heute sein Misstrauen.

Zenash mit ihrer Betreuerin Abaynesh.
Aleksandra Pawloff

Die Sozialarbeiter hatten 2012 gezielt das Haus der Familie Megressa angesteuert, nachdem ein Nachbar sie darauf hingewiesen hatte, dass dort ein blindes Mädchen wohnt. Auch wenn in einigen Gebieten Äthiopiens mittlerweile durch flächendeckende Befragung aller Haushalte die Anzahl an Kindern mit Behinderungen erhoben werden soll, um so Zugang zu ihnen erlangen, ist das damit verbundene Stigma nach wie vor sehr hoch. Zenashs Vater entschied sich deshalb dazu, die Blindheit seiner Tochter vor den örtlichen Behörden zu verschweigen.

Die Helfer mussten lange Überzeugungsarbeit leisten, bis Zenashs Vater bereit war, seiner Tochter die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie braucht. Seither lernt sie zu Hause Braille und blüht dabei richtiggehend auf. Den nächsten Schritt hat Zenash auch schon geschafft. Sie kann jetzt zur Schule gehen.

Integration in Dorfschule

"Ursprünglich wollten wir sie auf eine Schule für Blinde schicken", sagt ihr Vater. Die wäre zwar weit entfernt gelegen, aber die einzig denkbare Möglichkeit gewesen. Doch Zenash weigerte sich. "Es hat mich tief getroffen, dass sie deswegen so verzweifelt war. Sie wollte nicht weg aus der gewohnten Umgebung, aber mir wäre keine andere Option in den Sinn gekommen", sagt Bulecha Megressa.

Schließlich gibt es sie aber doch. Eine Lehrerin der örtlichen Dorfschule erklärt sich freiwillig dazu bereit, Zenash im Unterricht zu unterstützen und mit ihr Braille zu lernen. Seither holen sie ihre Freunde täglich von zu Hause ab und begleiten sie auf dem Weg zur Schule. "Sie genießt das", sagt Zenash Vater stolz und ist gleichzeitig dankbar: "Wir bekommen sehr viel Unterstützung von unserer unmittelbaren Umgebung."

Zenash selbst will den Fußstapfen ihres Vaters folgen und eines Tages Lehrerin werden. Mathematik und Englisch sind ihre Lieblingsfächer. Sie ist außerdem Mitglied im "Disability Club" der Schule, der sich für Kinder mit Behinderungen einsetzt. Mittlerweile steht die ganze Familie hinter ihrem Bildungsweg, und der Vater lernt selbst die Blindenschrift: "Ich versuche es zumindest, aber die Kinder sind schneller", scherzt er. Sozialarbeiterin Abaynesh ist zufrieden mit Zenashs Fortschritten, bald kann sie die Familie sich selbst überlassen.

Bezuayehu mit ihrer Mutter.
Aleksandra Pawloff

Neun Jahre hilflos auf dem Boden

Bei Bezuayehu, einem 14-jährigen Mädchen mit zerebraler Kinderlähmung, steht Abaynesh hingegen noch am Anfang. Nach der Geburt bemerkten die Eltern, dass ihre Tochter nicht wie andere Kleinkinder in ihrem Alter krabbeln und sitzen kann. Zuerst heißt es vom Arzt noch: "Sie ist dick, lasst ihr Zeit." Im Krankenhaus wird dann aber bald die Diagnose Kinderlähmung gestellt – ohne Aussicht auf Besserung. Bezuayehus Mutter und Vater bringen sie daraufhin zu mehreren Heilern, wenden dafür ihr ganzes Geld auf. An der Situation ändert das nichts. Irgendwann wird Bezuayehu im Hinterzimmer eingesperrt, wenig später verlässt der Vater die Familie.

Mutter Tadesse bleibt überfordert zurück. Sie beginnt Bezuayehu zu vernachlässigen, vergisst sie fast. Neun Jahre muss sie auf dem Boden liegen, die meiste Zeit in ihren eigenen Exkrementen und ohne sich mitteilen zu können. "Sie war mir eine unglaubliche Last", sagt ihre Mutter jetzt und kann ihren Anflug von Reue nicht ganz verbergen. Sie sei damals nicht davon ausgegangen, dass ihr "aussätziges" Kind jemals von jemandem anderen berührt werde als von ihr selbst.

Aufklärung beim Kaffee

Im September 2011 besucht Bezuayehus Mutter dann eine sogenannte "Kaffeezeremonie" in ihrer Nachbarschaft. Es ist äthiopische Tradition, dass im Dorf einmal wöchentlich zum Kaffee geladen wird. Dieses Ritual, bei dem Frauen ihre Freundschaften pflegen, wird auch für gezielte Aufklärungsmaßnahmen genützt. Manches Mal werden Referate über Verhütung gehalten, dann wieder über Kindererziehung. Auch die örtlichen Rehabilitationsteams in Äthiopien gehen gezielt hin, um über Behinderungen aufzuklären – einerseits wie Behinderungen verhindert werden können, andererseits wie die Betroffenen im Alltag integriert werden können. Als Bezuayehus Mutter hört, wie viele Menschen von Behinderungen betroffen sind, begreift sie das erste Mal das Schicksal ihrer Tochter nicht mehr als Bestrafung.

Kaffeezeremonie in Wolliso.
Aleksandra Pawloff

Schritt für Schritt beginnt sie ihr Leben und das ihrer Tochter zu ändern. Sie lernt von den Sozialarbeitern, wie sie Bezuayehu waschen und sauber halten kann, wie sie mit Physiotherapie ihre Beweglichkeit stärken kann. Dass sich das Rehabilitationsteam zweimal die Woche mit Bezuayehu beschäftigt, spielt sie auch frei, um für den Lebensunterhalt sorgen zu können. "Früher habe ich Bezuayehu mitgeschleppt auf den Markt, um Injera (Anm.: äthiopischer Fladen) zu verkaufen. Das war sehr beschwerlich", sagt sie. Mittlerweile schauen auch die Nachbarn vorbei, um auf die Tochter aufzupassen.

Jetzt sitzt Bezuayehu zufrieden in ihrem Spezialsessel und grinst. Sprechen kann sie noch nicht, aber Abaynesh ist sicher, dass auch das funktionieren wird: "Wir beginnen bald mit der Sprachtherapie. Sie hat jetzt schon sehr viel an Selbstvertrauen gewonnen, kann nach Dingen greifen und selbst essen." Einen Rollstuhl wird Bezuayehu bald erhalten. "Und nächstes Jahr soll sie dann mit der Schule beginnen."

Bezuayehu ist eines von insgesamt 26 Kindern, die von Abaynesh betreut werden. Von morgens bis abends geht die junge Physiotherapeutin für das örtliche Rehabilitationsteam von Haus zu Haus, um zu helfen. Sie begründet ihr Engagement so: "Ich tue das für mein Herz. Ich weiß, dass ich das Leben dieser Kinder ändern kann." Weil sie so große Fortschritte erzielen kann, erhält sie statt 8000 Birr mittlerweile 11.000 Birr (450 Euro). Eine stolze Summe für ein afrikanisches Entwicklungsland. Die NGO Licht für die Welt unterstützt die lokalen Rehabilitationseinheiten im Süden Äthiopiens mit Spendengeldern. 5733 Kinder werden derzeit physiotherapeutisch betreut.

An der Del-Betegel-Schule lernen alle Schüler Gebärdensprache, um sich mit ihren gehörlosen Klassenkameraden verständigen zu können.
derstandard.at/eder

In der Hauptstadt Äthiopiens, Addis Abeba, wird die Integration behinderter Kinder noch einen Schritt weiter vorangetrieben. An der Del-Betegel-Schule lernen gehörlose Kinder gleichberechtigt mit ihren Altersgenossen im Klassenverbund. Damit sich auch alle verständigen können, ist die Gebärdensprache Unterrichtssprache. "Inklusive Bildung ist die beste aller Alternativen. Sie bereichert alle Beteiligten", sagt Mekomnen Maneaye, der für die Klassen zuständig ist, die von Kindern mit besonderen Bedürfnissen besucht werden.

22 der neunzig Lehrer an der Del-Betegel-Schule haben selbst auch eine Behinderung. Sie suchen aktiv nach Kindern, die von ihren Eltern aufgrund der Behinderung versteckt werden, und bewegen sie dazu, in eine der insgesamt 30 inklusiven Schulklassen in Addis Abeba zu kommen.

Lehrer Mekomnen Maneaye koordiniert den inklusiven Unterricht.
Aleksandra Pawloff

Auch wenn nur vier Kinder in einer inklusiven Klasse mit 40 Schülern gehörlos sind, wird vorausgesetzt, dass alle von ihnen die Gebärdensprache lernen. Für die ansonsten oft Benachteiligten eröffnet dies eine ganz neue Perspektive: "In der Schule fühle ich mich endlich normal und vergesse meine Gehörlosigkeit", sagt der zehnjährige Salamaneit. (Teresa Eder, derStandard.at, 26.12.2014)