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Friederike Mayröcker, die am Samstag ihren 90. Geburtstag feiert, übertrifft sich noch einmal selbst: Ihr Sudel- und Notizbuch "cahier" gleicht der Improvisation einer Organistin, die auf der Orgel der Sprache fantasiert.

FOTO: APA/HERBERT NEUBAUER

Wien - Je älter Friederike Mayröcker wird, umso radikaler dichtet sie. Ihr neuer Band cahier verhält sich zu den études vom vergangenen Jahr wie ein Geschwisterkind. Wieder sind die Deckel aus Pappe. Das Liniennetz hauchzarter Tintenstriche lässt an ein Übungsheft denken: an ein Sudelbuch, an flüchtiges Zettelwerk.

Mayröcker feiert am Samstag ihren 90. Geburtstag. An ein Ziel gelangt ihr besessenes Schreiben nie. Wiederum ist jeder - zumeist eineinhalb Seiten lange - Eintrag am Ende datiert: von "19.12.12" bis "19.3.14".

Alles wie gehabt, könnte man meinen. Und dennoch ist alles ein bisschen anders. Die Spezialistin für kleine und kleinste Verschiebungen gleicht immer mehr einer Organistin, die auf der Orgel der Sprache fantasiert. Mayröcker gehorcht nur noch ihren Eingebungen, "Gewölken aller Art", Wörter, die sich ihr - scheinbar ohne aktives Zutun - auf die Zunge legen. Es ist, als wollten die Satzgruppen und Wortfunde nach allen Seiten hin wegwuchern. Ein scharfer Wind bläst die gesammelten Notizen fort. Sturm zaust das Lebensbäumchen. Die Zumutungen von Einsamkeit und Alter machen der Dichterin zu schaffen, und Mayröckers Schreibherz blüht nicht nur, sondern es blutet.

Blüten, Dolden, Ranken

cahier besitzt keinen Inhalt, den man in ein paar schlichten Sätzen wiedergeben könnte. Wiederum sind es "Herzgewächse": Blüten, Dolden, Becher, Ranken, mit denen die Dichterin ihre Leser überschüttet.

Atemlos galoppieren die Sätze. Manche von ihnen brechen noch vor jeder Prädikation ab. Friederike Mayröcker, die von sich sagt, sie glaube an Gott, ist eine religiöse Autorin. Ihre Sprache hat natürlich nicht das Geringste mit dem Deutsch der Amtskirchen gemein. Eher schon kündet ihr Schreiben von einem nachschöpferischen Ehrgeiz. Die Quelle der poetischen Einbildungskraft darf unter keinen Umständen versiegen. Was auf der Welt ist, was unter uns lebt, west, blüht oder vergeht, ist es wert, vom Strom dieser Sprache, ihrem völlig unvergleichlichen Idiom, fortgerissen zu werden.

Mayröckers "Übermacht" ist die friedfertigste Gewalt, die sich denken lässt. Am Studium von Mayröcker-Büchern könnte die Welt genesen. In dem Text cahier herrscht eine Art gesunder Trance. Hier wird nicht "gehandelt", kein Geld verdient und auch kein Sinn gestiftet. Die Anemone, die Hyazinthe, die tote Fliege auf dem Fensterbrett genießen gleiches Recht.

Mayröckers magisches Erzählerinnen-Ich lebt in der Schwebe verwirklichter demokratischer Verhältnisse. Seine Beschwörungen sind an den Automatismen des Surrealismus geschult. Träume, die aus der Tiefe einsamer Nächte hochsteigen, überlagern wortreich das Wachbewusstsein. Leben heißt in diesem Zusammenhang: den Bleistift gezückt zu halten, um die Wunderwörter einzusammeln: "Wermutsfichten", "Locke und LOERKE" (Oskar Loerke (1884-1941) war ein wunderbar formbewusster Naturlyriker), "ach Rotkehlchen ach Zungenherz", "Salbeistuhl". Dazu kommen Verwandte im Geiste, zitierte Verbündete, Köpfe von Jean Genet bis Jacques Derrida.

Niemand handelt, nichts passiert. Und doch ist es um Autorin wie Leser geschehen. In zartesten Umrisslinien wird die Zurückgezogenheit Mayröckers deutlich. Sie kann oder will den Verlust ihres Kollegen und Lebensmenschen Ernst Jandl ("EJ" starb 2000) nicht verwinden. Sie spricht in der Sprache der Blumen und des Mondes, um Todesahnungen zu verscheuchen. Auf dem Plattenspieler ("GRAMMO") dreht sich die Musik von Franz Liszt oder Antony Hegarty. Auf höchster Erregungsstufe werden den Dingen und Lebewesen Namen abgetrotzt, die ihr Fortleben im Gedächtnis bezeugen. Österreichs letzte Universalpoetin wird am Samstag im Wiener Akademietheater gefeiert: mit Requiem für Ernst Jandl mit der Musik von Lesch Schmidt. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 19.12.2014)