Tunis/Madrid - Tunesien beendet am Sonntag einen Wahlmarathon. Mit der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen wird das Land, in dem vor vier Jahren der Arabische Frühling begonnen hatte, nach dem Parlament auch die Staatsspitze, besetzen. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem scheidenden Übergangspräsidenten Moncef Marzouki und dem Chef der im Oktober bei den Parlamentswahlen siegreichen Nidaa Tounes (Der Ruf Tunesiens), Béji Caïd Essebsi, erhitzt die Gemüter der 5,2 Millionen Wahlberechtigten.
Der 88-jährige Essebsi geht als Favorit ins Rennen um den Präsidentenpalast in Karthago, unweit der Hauptstadt Tunis. Bei der ersten Runde vor einem Monat errang er 39,46 Prozent der Stimmen. Marzouki musste sich mit sechs Prozent weniger zufriedengeben.
88-jähriger Veteran: Modernes Land
Sollte Essebsi gewinnen, wird er endgültig zum neuen starken Mann des Landes. Denn seine vor zwei Jahren gegründete Partei Nidaa Tounes gewann im Oktober die Parlamentswahl. Sie ist ein Sammelsurium aus Liberalen, Gewerkschaftern und früheren Mitgliedern der Partei RCD des 2011 gestürzten Diktators Zine el-Abidine Ben Ali. Zusammengehalten wird sie hauptsächlich von dem Wunsch, den Islamisten von Ennahda, die in den Jahren des Übergangs regierten, den Weg zur Macht zu verbauen.
Essebsi schreibt sich ein "modernes, säkulares Tunesien" auf die Fahne. Er führt seine lange politische Erfahrung ins Feld und verspricht Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung. Er war unter dem ersten Präsidenten Tunesiens nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1956, Habib Bourguiba, Innen-, später Außenminister. Unter Ben Ali stand er zwei Jahre dem machtlosen Parlament vor, bevor er sich aus der ersten Linie der Politik zurückzog. Nach dem Sturz Ben Alis wurde er Chef der Übergangsregierung und führte Tunesien zur Wahl der Verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011, die dann aber die Ennahda gewann.
Ben Ali-Seilschaften
Es ist Essebsis Werdegang und die Tatsache, dass er frühere, teilweise führende Mitglieder der RCD um sich schart, die Marzouki im Wahlkampf nutzt. Er warnt vor "der Rückkehr des alten Regimes" und verspricht die "Werte der Revolution" zu verteidigen.
Die Strategie ging im ersten Durchgang auf. Der 69-jährige ehemalige Oppositionelle und Menschenrechtler kam auf Platz zwei, obwohl er keine eigene Hausmacht hat. Seine kleine ebenfalls säkulare Partei, Kongress für die Republik (CpR), unterstütze nach den Wahlen 2011 die Ennahda. So wurde Marzouki zum Übergangsstaatschef.
Vergangenen Oktober straften die Wähler ihn dafür ab. Der CpR verlor 25 seiner 29 Parlamentssitze. Dass er dennoch gegen Essebsi in die Stichwahl kam, verdankt Marzouki vor allem den Ennahda-Wählern, um die er wirbt. Denn die Islamisten schickten keinen eigenen Kandidaten ins Rennen.
"Kandidat der Islamisten"
Als "politisch Toter, der dank Ennahda wiederauferstanden ist" bezeichnet ihn Essebsi immer wieder und stellt Marzouki damit in die Ecke der Islamisten. Aus dem Rennen zweier von Haus aus säkularer Politiker wurde so doch wieder ein Kampf zwischen religiösem und weltlichem Politikverständnis.
Und das wiederum ist ein Konflikt, in dem sich Essebsi gern und erfolgreich bewegt. Mehrere kleinere, liberale, sozialdemokratische und säkulare Parteien unterstützen ihn in der zweiten Runde. Die linke Volksfront unter Hama Hammami, der beim ersten Durchgang Dritter wurde, empfiehlt ihren Anhängern, auf keinen Fall Marzouki zu wählen. "Er ist der Kandidat der Islamisten", warnt auch sie, ohne jedoch zur Wahl Essebsis aufzurufen.
Marzouki gibt sich dennoch nicht geschlagen. Er wirbt um diejenigen, die bei der ersten Runde zu Hause blieben. Das gilt vor allem für die Jugend, die einst die Revolution trug. Dabei wendet er, wenn nötig, auch schmutzige Tricks an. "Wenn wir nicht gewinnen, dann war Wahlbetrug im Spiel" erklärte er im Wahlkampf. Die tunesische Wahlaufsicht, die sowohl 2011 als auch jetzt wieder von internationalen Organisationen für ihre Arbeit gelobt wurde, mahnte Marzouki umgehend ab. (Reiner Wandler, DER STANDARD, 18.12.2014)