Den Lebewesen und Dingen bringt sie im 90. Jahr ihres Lebens nur noch Liebe entgegen: eine zärtlich gespannte Aufmerksamkeit. Man darf sich die große Dichterin Friederike Mayröcker vielleicht nicht als glücklichen Menschen vorstellen. Aber sie hat den Traum vom Schreiben - ein einziges, ununterbrochenes Fließen der Sprachpartikel - für sich auf die Spitze getrieben.
Katja Gassers wunderbares Mayröcker-Porträt "Wilder, nicht milder" erzählte im Rahmen des ORF-"Kulturmontags" von einer Verkehrung der Verhältnisse. In Mayröckers Werk ist die Umwertung aller Werte tatsächlich Wirklichkeit geworden. Der Traum der Universalpoesie, den die Frühromantiker träumten, hat von einer unscheinbaren Wohnung in Wien-Margareten Besitz ergriffen. Mayröckers Horst in der Zentagasse ist ihr mit den Jahren zum Zaubergarten geworden: Manuskriptblätter mit Majuskeln bilden Laubhaufen. Auf dem analogen Plattenspieler dreht sich Glenn Gould. Unter der schwarzen Juliette-Greco-Mähne der Femme de lettres entstehen die wildesten und ungebärdigsten Texte dieser Jahre und Tage. Sie handeln von der allmählichen Verwörtlichung der Welt. Ein Vorgang, wie man ihn sich tröstlicher kaum denken kann.
"Angst" habe sie zeit ihres Lebens gehabt. Verschossene Kindheitsbilder zeigen den "Schreckling", ein sanftes Mädchen mit Masche im Haar. Den Krieg habe sie "wie durch einen Vorhang" erlebt. Die Fron als Englischlehrerin verfolge sie bis heute in den Schlaf. Ein Schwarz-Weiß-Film aus 1967 präsentierte sie mit Ernst Jandl und H. C. Artmann, die wie Schulbuben einen ihrer Texte nachsprachen. Der Schreckling trug Perlenkette und glich einem Panther auf dem Sprung. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 17.12.2014)