Expertin Schlaffer bei der Arbeit in Kaschmir: Diese Frauen sind besorgt, dass ihre Söhne für den Jihad rekrutiert werden, oder haben Kinder, die bereits radikalisiert sind.

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"Kein Politiker, kein Geheimagent kommt den Mechanismen der Rekrutierung so nahe wie die Mütter": Schlaffer über die Strategien der Jihadisten.

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STANDARD: Als Sozialwissenschafterin haben Sie hunderte Befragungen mit Müttern durchgeführt, deren Kinder in den Extremismus abgelitten sind. Ob in Palästina, Pakistan, Nordirland, Österreich: Welche gemeinsamen Familienkonstellationen gab es da zuvor?

Schlaffer: Auf ein Familienprofil sind wir nicht gestoßen - wohl aber auf ähnliche Frühwarnsignale: etwa, dass sich eine Politik der geschlossenen Türen im Haus breitmacht, also junge Menschen nicht mehr wollen, dass man ihr Zimmer betritt. Burschen, die derzeit von islamistischen Führern angeworben werden, fangen an, wahhabitische Roben zu tragen, Mädchen eher Sachen, die sie verhüllen.

STANDARD: Ihre Organisation "Frauen ohne Grenzen" klärt nun weltweit in "Mütterschulen" darüber auf, was dann am besten zu tun ist. Doch gerade der Islamismus vertritt ja ein weibliches Rollenbild wie aus mittelalterlichen Zeiten - hören die Söhne da überhaupt noch auf Frauen?

Schlaffer: Kein Politiker, kein Geheimagent kommt den Mechanismen der Rekrutierung von Jihadisten so nahe wie die Mütter. Sie sind damit wichtige, wenn auch unfreiwillige Zeitzeuginnen, die ihre Kinder auf dem Weg in den Abgrund des Terrorismus beunruhigt beobachten.

STANDARD: Was, wenn sich Jugendliche schon die berüchtigten IS-Videoclips reinziehen - ist es da nicht oft reichlich spät für familiäre Intervention?

Schlaffer: Nicht unbedingt. Die Mütter von Attentätern sagen durchgängig: Zu diesem oder jenem Zeitpunkt hätten wir mehr Selbstbewusstsein, mehr Hilfe gebraucht, dem etwas entgegenzusetzen. Denn die Familien sind nicht gerüstet für den Kampf gegen diese gefährlichen Ideologien - und mit ausschließlich emotionalen Reaktionen kann man ihnen sicher nicht begegnen.

STANDARD: Sie meinen schreiende Anklagen und harte Verbote angesichts von IS-Propagandamaterial?

Schlaffer: Besser wäre es, wenn die Mütter ihre Kinder gleich auffordern: "Erzähl mir, was siehst du dir an?" Das eröffnet die Möglichkeit für einen Diskurs in der Familie. In den Mütterschulen weisen wir auch darauf hin, dass sie die neuen "Freunde" der Söhne nach Hause einladen sollen. In Indonesien zum Beispiel sprach ich mit Rekrutierern, die versuchen, die Jugendlichen von den Familien zu isolieren, und sie dafür sogar in den Moscheen übernachten lassen. Fest steht: Die Fundamentalisten nützen die Defizite der jeweiligen Gesellschaft.

STANDARD: Wo sind da die größten Schwachstellen in den westlichen Demokratien?

Schlaffer: Hier im Westen gelingt es den fundamentalistischen Führern, Jugendliche auf der Suche nach Identität, Zugehörigkeit und Bedeutung mit paradiesischen Verheißungen anzulocken. Denn die IS verspricht alles: Jobs, Wertschätzung, Brüderlichkeit - und appelliert darüber hinaus an die Robin-Hood-Fantasien.

STANDARD: Bis sich die verführten Jugendlichen im blutigen "Heiligen Krieg" wiederfinden?

Schlaffer: Exakt. Doch trotz des Bruchs mit dem alten Umfeld besteht auffallend oft eine emotionale Nabelschnur zu den Müttern.

STANDARD: Inwiefern?

Schlaffer: Der Sohn einer Interviewpartnerin hat etwa folgendes SMS aus Syrien geschickt: dass sie zu fünft nur ein Gewehr haben, dass sie nächste Woche an die Front sollen und dass er eine Heidenangst davor hat. Von diesen Ängsten erfahren nur die Mütter. Sie müssen als wichtiges Mosaik für die Gegenerzählungen genutzt werden und die Geschwister, Nachbarn, Bekannten erreichen. Dafür müssen wir das Schweigen der Betroffenen aufbrechen, um diejenigen zu erreichen, die noch nicht in den Jihad gezogen sind.

STANDARD: Was simsen etwa die Töchter?

Schlaffer: Aus den Gesprächen wissen wir, dass viele Mädchen nach fünf bis sechs Monaten schwanger und schwer depressiv sind, weil sie sich als Arbeits- und Schlafzimmersklavinnen missbraucht fühlen. Sie schreiben dann mitunter Hilferufe, dass es ein Zeitfenster für ihre Rückholung gäbe, wenn die Männer an der Front sind. Bislang vergeblich, es ist ja ein gefährliches Unterfangen, für das viele Unterstützungsmechanismen in Gang gesetzt werden müssen.

STANDARD: In Österreich werden zurückgekehrte "foreign fighters" penibel überwacht - macht Resozialisierung überhaupt einen Sinn?

Schlaffer: Angesichts dieses Phänomens wirken alle westlichen Staaten mit den aktuellen Entwicklungen überfordert, da sie - und auch wir hier in Österreich - ständig an den Betroffenen vorbeidiskutieren. Fakt ist: Gemäß unserer Studie, die das Potenzial von Müttern explorierte, vertrauen über 90 Prozent der Betroffenen anderen Müttern, gefolgt von den Lehrern ihrer Kinder. Bis dato lassen wir in Österreich aber auch die Pädagogen allein mit dem zunehmenden Extremismus. Das ist nicht nur eine vertane Chance, sondern eine tickende Bombe - und hier müssten endlich Hilfsprogramme, eine Taskforce her, wenn die Mütter Alarm schlagen und teilweise sogar die Polizei bitten, ihre Söhne unter Beobachtung zu nehmen. Allerdings vertrauen unsere Befragten nur zu 39 Prozent der Polizei und zu 29 Prozent ihren Regierungen. Ein alarmierendes Sicherheitsdefizit.

STANDARD: Die Regierung setzt auf eine Präventionshotline und pocht sehr darauf, dass die Islamische Glaubensgemeinschaft ihre Verantwortung im Kampf gegen Islamismus wahrnimmt - zu Recht?

Schlaffer: Unserer Erfahrung nach werden die Jugendlichen mittlerweile so schnell rekrutiert, dass sie nicht einmal Zeit haben, die Suren des Koran zu studieren. In allen westlichen Staaten will man nun die religiösen Führer einbinden, nur: Die Terroristen wenden sich ja auch gegen gläubige Muslime, wenn diese nicht bereit sind, den radikal-salafistischen Weg zu gehen. Deswegen kann man die Präventionsarbeit nicht allein den Communities überlassen. Was die Hotline betrifft: Das darf nicht bloß eine Art Kummerkasten sein, hier braucht es Sozialarbeit und Kommunalarbeit, die schon viel früher ansetzt.

STANDARD: In anderen Staaten ist Ihre Arbeit offenbar gefragter als hierzulande?

Schlaffer: In England haben wir bereits eine Antiradikalisierungskampagne durchgeführt, die tausende Menschen erreicht hat, von betroffenen bis beunruhigten Familien, von sozialen Agenturen über Moscheen bis zu den Schulen. Wir haben dafür einen Film produziert, in dem Mütter junger Extremisten sprechen. Es hat eine ungeheure Wirkung in der Aufklärung, wenn die Mutter eines Attentäters, der mitgeplant hat, die Flugzeuge in das World Trade Center zu steuern, sagt: "Ich verteidige meinen Sohn nicht, sein Plan hat nichts mit dem Islam zu tun." Oder wenn die Mutter eines Sohnes, der eine Mall in Bristol sprengen wollte, erklärt: "Ich will das Stigma, Mutter eines Attentäters zu sein, brechen - und andere Mütter wissen lassen, welche Warnsignale ich übersehen habe."

STANDARD: Hat die Regierung schon um Ihre Expertise gebeten?

Schlaffer: Es läuft umgekehrt. Ich bitte offizielle Stellen, uns in die Präventionsarbeit einzubinden, zu unterstützen. Das Sozialministerium hat uns bereits ermöglicht, ein weltweit einzigartiges Treffen von Müttern, deren Söhne und Töchter nach Syrien aufgebrochen sind, hier in Wien zu organisieren. Indem wir den persönlichen Erfahrungen der Mütter nachgehen, finden wir einen Weg, die Rätsel der Radikalisierung zu entschlüsseln. (Nina Weißensteiner, DER STANDARD, 16.12.2014)