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Seit Wochen wird Viktor Orbán (rechte Maske, neben einer von Wladimir Putin) bei Demos immer vehementer kritisiert.

Foto: AP / Lefteris Pitarakis

Tausende Ungarn gehen wieder auf die Straße: gegen Korruption, gegen Sozialkürzungen und gegen die Arroganz der Mächtigen. Hinter den Demos stehen nicht die seit 2010 praktisch gelähmten demokratischen Oppositionsparteien, sondern empörte Bürger, die sich den Herrschaftsstil von Premier Viktor Orbán nicht mehr länger gefallen lassen wollen.

Die einzelnen Initiativen agieren jeweils noch für sich. Studentenaktivisten, Gewerkschafter, Menschenrechtler streben aber zunehmend eine Koordinierung ihrer Aktivitäten an.

Die Welle der Proteste begann Ende Oktober, als der Rechtspopulist Orbán die Einführung einer neuen Internetsteuer ankündigte. Der machtbewusste Premier nahm die Idee schnell wieder zurück, doch ins Getriebe seiner gut geölten Maschinerie war Sand geraten.

Minus zwölf Prozentpunkte

Nach übereinstimmenden Umfragen der großen Meinungsforschungsinstitute verlor Orbáns Fidesz-Partei seit Oktober zwölf Prozentpunkte bei der Wählerschaft, konkret: 900.000 Stimmbürger. Orbáns Beliebtheit fiel von 48 auf 32 Prozent - beispiellose Zahlen.

Der Motor der Dampfwalze stottert auch deshalb, weil Orbán nach seinen Wahltriumphen im Frühjahr, anstatt die Gewinne zu konsolidieren, neue Fronten im politischen Kampf eröffnete. So suchte er den Konflikt mit Lajos Simicska, seinem Freund noch aus Gymnasialzeiten, zugleich der mächtigste Oligarch im Lande, Finanzier des Fidesz in den Früh- und Oppositionszeiten und Besitzer wichtiger Medien. Durch seine Anlehnung an Putins Russland geriet Orbán bei den USA und bei der EU in den Verdacht der Illoyalität gegenüber westlichen Bündnissen, denen Ungarn angehört.

Auf die Watchlist gesetzt

Washington setzte indes sechs hohe ungarische Regierungsbeamte, unter ihnen die Chefin des Landesfinanzamtes, wegen mutmaßlicher aktiver Korruption zum Schaden für US-Unternehmen auf die Watchlist. All dies ramponierte Orbáns Ansehen merklich, auch bei der Fidesz-Wählerschaft. Deren jüngeres, moderneres Segment goutiert es nämlich überhaupt nicht, dass sich ihr Land aus der westlichen Verankerung lösen und "Mütterchen Russland" in die Arme treiben könnte.

So erlebt die Öffentlichkeit derzeit nicht nur eine Welle der Bürgerproteste, sondern wird auch Zeuge von Schlagabtäuschen und Indiskretionen im Innersten der Macht, wie sie bis zum Herbst niemals denkbar gewesen wären. Orbáns Stab scheint, außer Tritt geraten zu sein: hektisch entwickelte neue Ideen, um wieder Oberwasser zu gewinnen, gerieren bloß neue "Shitstorms", so zuletzt die Ankündigung, erzwungene Drogentests für Teenager, Politiker und Journalisten einzuführen.

Risse in Orbáns Machttektonik

Manche sehen bereits Orbáns Ende nahen. Doch so sehr nun Risse in seiner Machttektonik klaffen: Das System ist durchaus noch gefestigt. Irgendwann mag es einen "tipping point" geben, aber der lässt sich kaum vorhersagen.

Der Politologe Péter Tölgyessi, der von 1998 bis 2002 als Fidesz-Abgeordneter im Parlament saß, sich aber seitdem Orbán entfremdet hat, meinte neulich in einer Studie, dass sich die Orbán-Macht praktisch nicht mehr abwählen lässt. Gerät diese ins Wanken, dann komme eine Art neue Systemwende in Gang: "Sobald in den Menschen das Bedürfnis nach einem neuen Richtungswandel heranreift, werden sich die entsprechenden Konsequenzen mit überraschender Geschwindigkeit und Kraft einstellen."

Seit Wochen wird Viktor Orbán (rechte Maske, neben einer von Wladimir Putin) bei Demos immer vehementer kritisiert. (Gregor Mayer, DER STANDARD, 15.12.2014)