Lässt seine Figur im Roman "Das verlorene Wochenende" einen Punkt erreichen, "an dem ein Drink zu viel ist und hunderte nicht genügen": Charles Jackson, umgeben von Literatur und Musik.

Foto: Jackson Family Collection

Wien - Als im Jahr 1944 Charles Jacksons Roman Das verlorene Wochenende in den USA erschien, machte man sich bei Farrar & Rinehart Sorgen. Andere Verlage wie Simon & Schuster hatten die Publikation dieses Erstlingswerks abgelehnt. Niemand konnte sich vorstellen, dass das Publikum mitten im Krieg die Geschichte eines aus der Welt gefallenen Säufers interessieren könnte. Doch sie tat es, auch weil Das verlorene Wochenende weit mehr ist als nur ein schwerer Trinkerroman.

Hitchcock war schnell auf das Buch - das sich mehr als eine Million Mal verkaufte - aufmerksam geworden, den Zuschlag für die Filmrechte erhielt dann schließlich Billy Wilder. Mit einem zum Entsetzen Jacksons umgeschriebenen Ende kam Wilders Filmadaption schon Ende 1945 ins Kino. Sie schrieb mit vier Oscars - bester Hauptdarsteller (Ray Milland), bester Film, beste Regie, bestes Drehbuch - Filmgeschichte.

Nachdem Das verlorene Wochenende in den 1950er-Jahren in deutscher Übersetzung erschienen war, sollte es fast sechzig Jahre dauern, bis der Roman, versehen mit einem informativen Nachwort von Rainer Moritz und erstklassig übersetzt von Bettina Abarbanell, nun vom Dörlemann-Verlag wieder auf Deutsch zugänglich gemacht wird. Endlich.

Don Birnam heißt der Mann, um den sich im wahrsten Sinn des Wortes alles dreht. Er ist Schriftsteller - und Quartalstrinker. Wir treffen ihn zu Beginn des 1936 spielenden Buches in seinem New Yorker Appartement auf dem Wohnzimmersessel herumlümmelnd. Gerade hat er in Joyce' Dubliners den Satz "Das Barometer seiner Gefühlsnatur zeigte eine Unwetterperiode an" gelesen. Und er weiß: "Da ist von mir die Rede. Von mir!"

Der 33-jährige Birnam sieht sich als vorübergehend in die Krise geratenen Schriftsteller und Gentleman-Trinker. Sein Bruder Wick, mit dem er zusammenwohnt, und vor allem Helen, seine Freundin, die bis zum Schluss hartnäckig an ihm festhält, aber sagen, der Alkohol habe seine Seele zerfressen, er habe aus Don einen anderen gemacht. Dass dies mehr, als ihm lieb ist, stimmen könnte, weiß er selbst. Allerdings hat er das Suchen nach den Gründen für das Trinken aufgegeben: "Zum Teufel mit den Ursachen - abwesender Vater, Kappa-U-Disaster, zu viel Mutter, zu viel Geld oder die zig anderen Gründe, auf die du dich zu deiner Rechtfertigung berufst." Längst weiß er, dass er einen Punkt erreicht hat, "an dem ein Drink zu viel ist und hunderte nicht genügen".

Bloßstellungen

Das erwähnte "Kappa-U-Disaster" nimmt, wie die Rückblenden in die Kindheit Birnams, eine zentrale Stellung im Buch ein. Konkret hatte Birnam als 17-Jähriger in der Studentenverbindung Kappa U seines Colleges einen älteren Schüler leidenschaftlich verehrt, ja von ihm geschwärmt, was zum Skandal und Birnams öffentlicher Bloßstellung führte.

Doch all diese Ereignisse tippt Jackson nur an, denn hauptsächlich lässt er Birnam - der hat nämlich, nachdem Bruder, Hund und Freundin für fünf Tage aufs Land gefahren sind, sturmfrei - alkoholmäßig außer Rand und Band geraten. Sechs Kapitel lang steigt er in seine private Hölle hinunter. Birnam wird an diesem verlängerten Wochenende lügen, betrügen, Geld stehlen, Kleider von Helen und seine Schreibmaschine zu verpfänden versuchen. Er wird von seiner Vergangenheit eingeholt werden, mit einer Schädelfraktur im Krankenhaus landen und weiters noch eine Handtasche stehlen, was schiefgeht.

Jackson fährt das ganze Arsenal von Schuld, Scham, Größenwahn und Selbstzerknirschung, Irrsinn und Klarsicht, Ausreden, Täuschung und Selbstenttäuschung auf, das Süchte ausmacht. Immer noch mehr Gläser werden getrunken, weitere Flaschen geöffnet, und das Ganze wäre schwer zu ertragen, wenn Charles Jackson nicht ein so guter Autor wäre.

Keine Beschönigungen

Obwohl nichts beschönigt wird, stellt Jackson den Trinkenden nie bloß, ganz nah bleibt er in seinem vorwiegend in der Er-Form erzählten Roman (nur ab und an werden Dialoge und Gespräche des Protagonisten mit sich selbst wiedergegeben) an seiner Figur. Doch immer wieder blendet der Autor von dem ganzen Elend weg, hin zur Kunst, zur Hoffnung. Denn dieses Buch ist voller Literatur, Musik und Klang. Neben dem - um nur die literarischen Verweise zu nennen - schon erwähnten Joyce werden Thomas Mann, Tschechow, Scott Fitzgerald (ein Säulenheiliger Jacksons), Dostojewski und Shakespeare zitiert, dessen Birnam-Wald in Macbeth die Hauptfigur den Namen verdankt.

In einer glasklaren, trotzdem nie kalten Prosa nimmt Jackson den Leser mit auf eine Reise ins Sodbrennen des Ich und führt ihn am Ende ins Auge des Taifuns, dorthin, wo - wie am Schluss des Romans - Stille herrscht. Eine trügerische. Das verlorene Wochenende ist das bekannteste Buch des 1903 geborenen Jackson geblieben, dasjenige, auf das er ein Leben lang reduziert wurde - und das einzige, das er nüchtern geschrieben hat. Ganz am Ende seines Lebens, aus seinem Alkoholismus und seiner Bisexualität machte er kein Hehl mehr, schaffte es Jackson nach langer Erfolglosigkeit 1967 einmal noch auf die Bestsellerlisten. Ein Jahr später ging der seit seiner Jugend chronisch lungenkranke Charles Jackson im Chelsea-Hotel in den Freitod. Henry Miller schreibt über ihn in seinen Erinnerungen: "Er war die Freundlichkeit in Person - außer zu sich selbst." (Stefan Gmünder, DER STANDARD, 13.12.2014)