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"Neben der Erfahrung der Freiheit war der letzte Sommer auf Hiddensee auch die Erfahrung der Leere: Immer mehr Freunde sind verlorengegangen, weggeblieben, geflohen."

Foto: APA/EPA/Jens Buettner

An klaren Tagen kann man von der Halbinsel Bug aus die Konturen von Hiddensee erkennen: Über die Reusen der Fischer blickt man auf die flache Küste vor den Häfen Vitte und Kloster, nördlich sind zwei vorgelagerte Landzungen, der Alte und Neue Bessin, zu sehen, dahinter der Dornbusch.

Hiddensee hat die Form eines Seepferdchens, in den 80er-Jahren hat Christian Collatz hier häufig Urlaub gemacht. Der Pfarrerssohn aus dem Umland von Berlin hatte es nicht leicht mit seiner Heimat. Als Einziger von drei Brüdern durfte er in der DDR eine staatliche Hochschule besuchen, und auch das nur, weil ihm ein gnädiger oder kluger Offizier nach seinem Grundwehrdienst in Prora "hervorragendes Klassenbewusstsein" bescheinigt hatte, um den Nachteil der Herkunft zu kompensieren. "Das Schlimmste aber war", erinnert sich der Altphilologe, heute Mitarbeiter der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, "dass das alles niemanden interessiert hat. Es ging bloß um die Anpassung an das System." An Hiddensee allerdings hat Collatz die besten Erinnerungen: "Wir waren Jahr für Jahr hier. Die Zimmer waren primitiv, aber die Brötchen waren frisch. Und wenn die Vermieterin gut aufgelegt war, gab es auch gepressten Sanddornsaft."

Für die Bluser, Freaks und Punks war die 20 Kilometer lange und kaum drei Kilometer breite Insel ein Idyll anderer Art. Hiddensee war Ort wilder Strandpartys und illegaler Konzerte, ein äußerstes Ende der DDR, an dem die Regeln des Sozialismus nur noch bedingt galten. Getrunken wurde nicht Sanddornsaft sondern ein zweifelhafter Wein namens Blauer Würger, der die Tanzenden in die Bewusstlosigkeit begleitete. Die Feste wurden von Aljoscha Rompe organisiert, dem charismatischen Leadsänger der Punkgruppe Feeling B. Rompes Band, heute fast vergessen, war überaus populär. Liedzeilen wie "Ohne Bewusstsein - das muss kein Verlust sein" oder "Mix mir einen Drink, der mich woanders hinbringt" wurden nicht nur als Elogen aufs Saufen, sondern auch als subversive politische Botschaften gedeutet. Mit von der Partie in Rompes Band waren Flake Lorenz am Keyboard und der Gitarrist Paul Landers. Lorenz und Landers landeten nach der Wende bei Rammstein und wurden Teil des wichtigsten gesamtdeutschen Musikexports in die USA. Rompe, der dem Leben als Antikarriere treu blieb, starb 2000 im wiedervereinten Berlin in seinem Wohnmobil. Er war nicht in der Lage, sich zu arrangieren - weder mit den verkorksten Typen im Politbüro noch mit den Chefs in den Chefetagen der Konzerne.

Vom Hafen Schaprode auf Rügen erreicht man Hiddensee in kaum einer dreiviertel Stunde, die Insel ist autofrei. Von der Vitter Bucht führt ein Weg über Kloster hinauf zum Klausner am Dornbusch. Das Gasthaus und Berghotel eröffnete zu Beginn des Jahrhunderts. 1962 wurde es von den "Berliner Metallhütten- und Halbzeugwerken" erworben und versorgte Betriebsferiengäste und die sogenannten Eintagsfliegen, wie man die Tagesausflügler zu DDR-Zeiten nannte. Bis zu 300.000 Besucher zählt Hiddensee während der Saison, im Winter scheint die Insel von den vielen Menschen erschöpft. Die Gegend oben um den Leuchtturm ist menschenleer und voller Gespenster; sie wurden wie Rompe doppelt betrogen und können deshalb nicht so leicht ihren Platz räumen. Es gibt noch zu tun.

Der Klausner ist Schauplatz von Lutz Seilers Roman Kruso, der wohl bedeutendsten deutschsprachigen Robinsonade seit Joachim Heinrich Campes Robinson der Jüngere aus 1779. Kruso, der in vielem Aljoscha Rompe ähnelt, ist Abwäscher am Klausner und der heimlicher Herrscher über das Inselreich Hiddensee. Kruso organisiert die Saisonarbeiter, politische und poetische Außenseiter, für die in der DDR-Gesellschaft kein Platz war. Den Part des Freitag und des Erzählers übernimmt bei Seiler Ed, ein Student aus Halle, der im Sommer 1989 nach Hiddensee kommt und von Kruso in die Gemeinschaft des Klausners aufgenommen wird. Heimlich werden die, die auf Hiddensee "übersommern" wollen, da sie "die Freiheit gewittert" haben, von den Klausnern mit Suppe und Schlafplätzen versorgt.

Insel auf der Insel

"Hiddensee, das war eine Insel auf der Insel", berichtet die im nahen Stralsund geborene Autorin Anke Kuhnecke, "und zugleich die Entgrenzung der Insel DDR. Ein Stück Freiheit, mit Sandstrand und stillen Plätzen, mit vielen Freundschaften und Feuer am Strand." Mit 19 ist Kuhnecke im Sommer '89 als Saisonkraft auf die Insel gekommen und stand gemeinsam mit Seiler an der Abwasch im Klausner. "Die Insel bot Leuten Zuflucht, die angeeckt hatten, die halb im System waren, halb draußen - also in den Grauzonen der Produktion."

Manche der Saisonarbeiter waren Philosophen, Theatermacher oder Soziologen. In den Nächten wurde viel vorgelesen und viel gevögelt. "Wir hatten damals", sagt sie lachend, "ja ausreichend Zeit, auch Zeit zum Poppen." Diese wilde, fiebrige Atmosphäre des "vogelfreien Insellebens" fängt Seilers Roman ein und skizziert das Bild einer libertinären plebejischen Gemeinschaft voller Poesie und Leidenschaft - einer Kommune jenseits der Biederkeit eines ausgeleierten Sozialismus, aber auch jenseits der trivialen Glücksversprechen des Westens. Das Leben mag karg sein und voller schwerer Arbeit, aber niemand hätte mehr einen Grund zu fliehen. Die Kultur des Mediterranen und des Lichts, das "Sonnendenken", das Albert Camus in Der Mensch in der Revolte eine Generation zuvor beschwört, wird bei Seiler an die Ostsee verlegt. Die Aufgabe der Arbeit, die der existenzialistische Robinson Kruso am Klausner auf sich nimmt, ist es, den praktischen Beweis für die "Existenz von Freiheit" anzutreten, sein politisches Programm ist es, ebenfalls ganz im Sinne von Camus, einen neuen, noch unbekannten Weg zu einer "unbezahlbaren Freiheit" zu finden. Sie "gedeiht in Unfreiheit", ist sich Kruso sicher, also nicht im Westen, sondern im Osten.

Wie alle Robinson-Inseln ist auch Seilers Hiddensee natürlich überall, und wie überall ist sie ein Labor der Existenz. Die literarische Insel war dabei stets ein Ort der Einsamkeit, in der sich der Held - ganz auf sich selbst zurückgeworfen - so lange bewähren muss, bis er errettet wird. In Kruso wird dagegen eine inverse, syndikalistische Robinsonade erzählt. Die zunächst vollbesetzte Insel entleert sich im Laufe der Geschichte, immer mehr Freunde verschwinden im Auflösungsprozess des DDR-Staates, bis sich auch die Idylle der Gemeinschaft auflöst. Am Ende, als der Sommer vorbei ist, bleiben nur noch die beide Freunde Ed und Kruso, um seltsam pflichtbewusst am Klausner die Stellung zu halten.

Der letzte sozialistische Sommer auf Hiddensee war, wie Kuhnecke erzählt, "seltsamerweise neben der Erfahrung der Freiheit auch die Erfahrung der Leere: Immer mehr Freunde sind verlorengegangen, weggeblieben, geflohen. Es ist immer leerer um einen herum geworden." Und nach dem Sommerende? "Natürlich war da vorneweg Freude, plötzlich gingen Türen auf und Wege, aber in Hinblick auf das, was unser Leben vorher plötzlich gewesen sein sollte, vielleicht auch eine Mischung aus Scham und Trotz."

An klaren Tagen ist oben vom Leuchtturm am Dornbusch die Küste von Møn zu sehen, der dänischen Schwesterinsel von Hiddensee. Die Gespenster, die von hier nicht weichen wollen, sehen noch etwas anderes: die unsichtbare Grenze und die beiden Kriegsschiffe, die sie bewachen.

Nachts durfte der Strand von Hiddensee nicht mehr betreten werden. Nach Sonnenuntergang leuchtete der sogenannte "Zeigefinger Gottes", ein Riesenscheinwerfer mit fast einem Meter Durchmesser, mit dem die Grenzschutztruppen Strand und Meer erhellten, um den Sozialismus gegen die Fliehenden zu schützen. Tausende haben von 1961 bis 1989 verzweifelt versucht, die maritime Mauer Richtung Dänemark zu überwinden: in selbstgebauten U-Booten, auf Luftmatratzen oder sogar schwimmend. Viele von ihnen wurden vom Scheinwerfer erfasst und verhaftet, viele sind auf der Flucht ertrunken und spurlos im Meer verschwunden.

Seilers Roman ist nicht nur eine Feierstunde der Existenz von Freiheit, sondern auch ein Kaddish auf diese Toten. Am Ende des Romans - in einem furiosen Zeitsprung in die Gegenwart - versucht Ed, der Überlebende, Jahrzehnte nach dem Sommerende wenigstens die Namen der Toten zu sichern. Auf dass ihrer endlich gedacht werden kann und die Gespenster verschwinden. (Ernst, Strouhal, Album, DER STANDARD, 13./14.12.2014)