Ein ruhiger (Gesangs-)Moment, vor dem nächsten handgreiflichen Ausbruch: Antoine-Olivier Pilon als Steve in Xavier Dolans preisgekröntem, fünftem Filmdrama "Mommy".

Foto: Filmladen

Wien - Eine Mutter-Sohn-Beziehung als Stellungskrieg im Eigenheim: Der Halbwüchsige Hubert hält seine Alleinerzieherin einfach nicht mehr aus. An einem Punkt dieses Konflikts schreibt er einen Schulaufsatz mit dem Titel "J'ai tué ma mère", ich habe meine Mutter getötet. Nach diesem symbolischen Muttermord hieß auch das 2009 in der "Quinzaine des réalisateurs" von Cannes veröffentlichte Debüt von Xavier Dolan. Der 1989 geborene Frankokanadier machte damit nachdrücklich auf sich aufmerksam.

Mit Mommy, seinem fünften Kinofilm in fünf Jahren, ist der heute 25-jährige Autor und Regisseur, Cutter, Ausstatter und Produzent noch einmal zu dieser Thematik und dieser Konstellation zurückgekehrt. Gleich geblieben sind die Schauspielerinnen Anne Dorval und Suzanne Clément als Mutter und als Lehrerin - und man kann den Film zunächst einmal auch als Hommage an diese beiden schon wiederholt eingesetzten Darstellerinnen verstehen.

Aber Dolan hat auch einige entscheidende Änderungen vorgenommen, unter anderem hat er nicht sich selbst, sondern den 17-jährigen Antoine-Olivier Pilon als Sohn mit Namen Steve besetzt. Vor allem hat Dolan die Geschichte ordentlich zugespitzt: formal, indem er das üblicherweise querformatige Filmbild auf ein Mittelformat komprimiert, die Schärfe auf die Figuren legt, meist in Nah- und Großaufnahme. Im Kino hat das paradoxerweise den Effekt, dass man das ungewohnte Bild als Hochformat wahrnimmt.

Die Bezüge zur Fotografie, die in Dolans Filmen, in langen statischen Frontalaufnahmen, aber auch in der akribischen Komposition, immer gegenwärtig sind, werden so noch markanter. Als äußere Entsprechung zur Intensität der Erzählung bleibt diese Verengung eher vordergründig.

Denn auch inhaltlich hat Mommy gegenüber J'ai tué ma mére an Schärfe und Dringlichkeit zugelegt: Während Hubert mit seiner Mama einen Kleinkrieg austrug, der noch innerhalb "normaler" pubertärer Absetzbewegungen lag, hat Steve seit Kindertagen eine "affektive Störung", wie seine Mutter Diane (Anne Dorval) einmal anmerkt. Seine fehlende Selbstkontrolle macht ihn nicht nur zum sozialen Unruheherd. Er gefährdet sich und andere. Einmal kann sich Diane nur mit Gegengewalt aus seinem Würgegriff befreien. Eine hohe Strafe droht wegen Brandlegung im Erziehungsheim, bei der ein anderer Bub schwer verletzt wurde.

Dabei erweist sich Diane über lange Zeit als energisches Backup für ihren Steve. Schon zu Beginn des Films wird die zarte Frau mit den Strähnchen in der dunklen Mähne, die bestickte Jeans zu hohen Hacken trägt, als eigensinnige, unerschrockene und wortgewaltige Person vorgestellt. Dass sie ihren Sohn einmal weniger liebhaben könnte, das sei schlicht nicht vorgesehen, wird sie einmal zu Steve sagen. Trotzdem wird die Beziehung auf harte Proben gestellt. Aber zwischenzeitlich scheint mit dem Hinzukommen von Kyla (Suzanne Clément), die gegenüber wohnt, ein anderes, befreites Leben möglich.

Berückendes Trio

Dolan inszeniert zur Vermittlung dieser Stimmungen einmal mehr kleine episodische Sequenzen (am schönsten zu On ne change pas von Céline Dion), die inzwischen schon ein bisschen zu sehr wie praktische Passstücke wirken. Der berückenden Präsenz seines Dreierensembles kann man sich schwer entziehen. Aber trotzdem bleibt nach Mommy der Eindruck, mit seinem Vorgänger, dem Thriller Sag nicht, wer du bist, habe Dolan als Filmemacher eigentlich den interessanteren, neuen Weg beschritten.

Andererseits ist er ohnehin schon mit der Vorbereitung seines nächsten Projekts beschäftigt: Seine erste englischsprachige Arbeit, ein in Hollywood angesiedeltes Drama, für das Susan Sarandon, Jessica Chastain und Kathy Bates vor der Kamera stehen sollen. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 12.12.2014)