Der Botaniker August von Hayek vermutete schon vor 100 Jahren, dass diese Pflanze eine eigene Art ist - und vergaß es wieder.

Foto: Zacharias Schähle

Wer das zu den Kreuzblütlern gehörende Alyssum neglectum in der österreichischen Exkursionsflora oder anderen Bestimmungsbüchern sucht, wird kein Glück haben: Bis vor kurzem gab es die Art nämlich offiziell gar nicht.

Und das, obwohl die sechs bis zwölf Zentimeter hohen Pflänzchen den Hochschwab schon mindestens seit der letzten Eiszeit besiedeln. Damals war der steirische Berg eine der wenigen eisfreien Inseln in den sonst vollständig vergletscherten Ostalpen. Seither haben sie sich nicht ausgebreitet, sind also echte Endemiten. Es gibt sie auf der ganzen Welt nirgends sonst als auf diesen wenigen Quadratkilometern in der Steiermark. Wie konnte diese leuchtend gelbe Pflanze auf einem Berg wie dem Hochschwab, der seit Generationen eifrig bewandert wird, so lange übersehen werden?

Indem sie für eine andere gehalten wurde. Die Ostalpen bestehen aus den Nördlichen und Südlichen Kalkalpen, die durch die zwischen ihnen verlaufenden und vorwiegend aus Granit und Gneis bestehenden Zentralalpen getrennt sind. Viele Pflanzen, die kalkigen Untergrund brauchen, haben hier daher ein zweigeteiltes Verbreitungsgebiet - so auch Alyssum ovirense, das Obir-Steinkraut, so benannt nach einem Gipfel der Karawanken. Es ist ebenso hoch wie sein Verwandter, blüht im Juli und August in leuchtend gelben Trauben und bildet im Herbst Früchte in Form kleiner Schötchen. Es gedeiht in einer Höhe von 1900 bis 2700 Metern ausschließlich auf Kalk, in erster Linie in den südlichen Kalkalpen, aber auch dort sehr zerstreut.

Das vermeintliche Alyssum ovirense im Hochschwab-Gebiet weicht in zwei augenfälligen Punkten von der südlichen Variante ab: Erstens wächst es in dichten alpinen Rasen, während das südliche Obir-Steinkraut unbewachsene Kalkschutthalden bevorzugt. Zweitens stehen die sternförmigen Haare, die auf den südlichen A.-ovirense-Blättern als weiße Punkte zu erkennen sind, auf den Blättern der Hochschwab-Population so dicht, dass sie silberweiß schimmern.

Letzteres fiel dem österreichischen Botaniker August von Hayek schon vor fast hundert Jahren auf, weswegen er bezweifelte, dass es sich bei den Exemplaren am Hochschwab um A. ovirense handelte. Da er aber keine reifen Früchte für die nähere Untersuchung zur Hand hatte, führte er keine Neubeschreibung der Art durch, und "später dürfte er es vergessen haben", wie Marianne Magauer vom Institut für Botanik der Universität Innsbruck vermutet.

Marianne Magauer und ihre Kollegen Bozo Frajman und Peter Schönswetter interessierten sich für A. ovirense, weil es, wie Magauer ausführt, "einfach ein interessantes Verbreitungsmuster hat". Sie waren angetreten, um Erklärungen dafür zu finden, wie das vermeintliche Vorkommen südlich und nördlich der Verbreitungsbarriere der Zentralalpen zustande kommt. Bei den genetischen Untersuchungen zeigte sich jedoch etwas ganz anderes: Bei den mit freiem Auge sichtbaren Unterschieden zwischen dem "nördlichen" und "südlichen" A. ovirense handelte es sich nicht nur um lokale Anpassungen.

Vielmehr lagen auch genetische Unterschiede vor. Die Zellen von A. ovirense aus den Südlichen Kalkalpen tragen etwa einen doppelten Chromosomensatz, während das nur am Hochschwab vorkommende Alyssum einen sechsfachen Chromosomensatz aufweist. Damit war klar: Es handelt sich um eine eigenständige Art, die zu Unrecht als Variation des Obir-Steinkrautes betrachtet wurde. In Anerkennung seines lange verkannten Status nannten die Innsbrucker Botaniker das Kräutlein Alyssum neglectum, das vernachlässigte Steinkraut.

Es kann gut sein, dass das nicht die letzte "neue" Art ist, die der Gattung Alyssum entspringt: Nicht nur handelt es sich dabei um eine sehr große Gattung mit insgesamt fast 200 Arten, von denen circa 70 in Europa vorkommen, ihre Systematik ist auch teilweise noch "ein bisschen ein Saustall", wie Magauer zugibt. Viele Arten sind noch nicht klar voneinander abgegrenzt oder überhaupt untersucht, und zudem ist ihr Aussehen oft auch sehr variabel. Jedenfalls findet man neue Arten nicht unbedingt nur im Dschungel. (Susanne Strnadl, DER STANDARD, 10.12.2014)