Werden Kinder in den ersten Monaten ihres Lebens nicht liebevoll umsorgt, leidet später ihre Stressresistenz und die Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen.

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Menschen sind keine Ratten. Manchmal können uns Ratten aber helfen, die eigene Natur besser zu verstehen: warum manche von uns zum Beispiel souverän mit Stress und Belastungen umgehen, während andere schon durch kleine Irritationen aus der Bahn geworfen werden. Forscher der McGill-Universität konnten im Jahr 2006 in Versuchen mit Ratten erstmals zeigen, welchen nachhaltigen Einfluss die liebevolle Zuwendung durch Vertrauenspersonen auf Nachkommen hat.

Werden Rattenkinder von ihren Müttern, Vätern oder anderen vertrauten Bezugstieren von Anfang an liebevoll berührt und umhegt, entwickeln sie einen lebenslang haltbaren Schutz gegen äußere Belastungen. Sie sind im Verlauf ihres Lebens weniger ängstlich und gestresst. Der Grund: Durch die frühen Berührungen wird ein Gen aktiviert, das für die Stressbewältigung zentral ist. Bleibt das liebevolle Umsorgen aus, leiden die Stressresistenz der Nachkommen und deren Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen.

Die Folgen der Verunsicherung

Dass der Anfang entscheidend ist, gilt auch für Menschenkinder. Man weiß heute aus zahlreichen Studien, dass Babys, die von Anfang an in den Genuss gelingender Bindungserfahrungen kommen, ein Leben lang besser gerüstet sind - nicht nur in gesundheitlicher Hinsicht. "Die neurobiologische Forschung, die Epigenetik und Resilienzforschung zeigen eindeutig, wie wichtig die frühe Phase für Kinder ist", sagt die Soziologin Sabine Haas. Sie leitet seit 2010 ein Grundlagenprojekt zu sogenannten Frühen Hilfen im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit. "Die Anwesenheit liebevoller konstanter Bezugspersonen ist das beste Beruhigungsmittel für Kinder", so Haas. Ein Beruhigungsmittel mit Langzeitwirkung.

Erfahren Kinder in der ersten Phase ihres Lebens Gewalt, Verunsicherung, instabile Beziehungen, Not oder anders Traumatisches, speichern sie diese Eindrücke als existenzielle Verunsicherung ab. Auch wenn sie sehr früh Erlebtes später nicht aktiv erinnern können, macht es sie im Verlauf ihres Lebens anfälliger für Erkrankungen. Kinder, die früh kein Vertrauen fassen konnten, entwickeln später öfter Depressionen und Süchte und neigen eher zu selbstverletzendem Verhalten.

Was krank macht

Nicht nur tätliche Gewalt verletzt Kinder nachhaltig - auch Lebensbedingungen können das tun. Arbeitslosigkeit der Eltern, Perspektivenlosigkeit in der Familie, Prekarität, Bildungsferne: All das setzt Kindern nachhaltig zu. Langzeitstudien zeigen, dass Kinder aus Familien mit geringem Einkommen im Erwachsenenalter häufiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen entwickeln - unabhängig von allen anderen Faktoren. Sogar dann noch, wenn sie selbst den sozialen Aufstieg geschafft haben.

"Dass die frühe Erfahrung für Kinder so wichtig ist, heißt nicht, dass man später nichts mehr tun kann", sagt Sabine Haas. Viel tun kann man etwa mit Ergo- oder Psychotherapie. Das Konzept solcher Frühen Hilfen, die es im angelsächsischen Raum schon länger gibt, setzt sich langsam auch hier durch. Es ist ein Versuch der Politik, die für Kinder so wichtige Stabilität auch in jene Familien zu bringen, die durch ökonomische und soziale Bedingungen benachteiligt sind. In Familien, in denen das Wissen über den Wert früher Bindung fehlt. Oder dorthin, wo temporäre Belastungen es den Eltern nicht erlauben, sich um Kinder zu kümmern.

Flächendeckend gibt es Frühe Hilfen derzeit in Vorarlberg, Modellregionen existieren in fünf Bundesländern. "2015 soll der österreichweite Ausbau folgen. Es geht darum, Familien in belastenden Lebenssituationen zu unterstützen", sagt Haas. Das passiert durch Hausbesuche von Unterstützungspersonen, gezielte Beratung und das Vermitteln von finanzieller und sozialer Absicherung. Nicht immer sind es medizinische Maßnahmen, Gesundheit ist vor allem eine soziale Herausforderung. Investitionen lohnen sich - nicht nur für die Kinder. (Lisa Mayr, DER STANDARD, 10.12.2014)