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Sergej Netschajew, Botschafter der Russischen Föderation in Wien, hält die Ukrainekrise für eine "innerukrainische Krise", mit der Russland nicht zu tun habe.

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Die Kämpfe um die Ostukraine wie auch die fortschreitende Destabilisierung mit dem wirtschaftlichen Niedergang der Region und der Flucht von Millionen Menschen werden so schnell wohl nicht aufhören. Die in dem Konflikt mitmischenden Mächte – Europa, Russland, die USA – haben zwar die Hoffnung auf eine politische Lösung für die Ukraine noch nicht aufgegeben. Alle Seiten betonen jenseits ihrer Drohungen und Sanktionen ständig, wie wichtig es doch wäre, dass es in Kiew zu Verhandlungen über eine nachhaltige friedliche Entwicklung kommt. Aber die Chance auf Erfolg ist minimal, das Ausmaß an wechselseitigem Vertrauensverlust inzwischen enorm.

Zu diesem Schluss konnte man bei einer überaus spannenden Debatte über die Ukraine und die Art, wie Europa auf die Lage reagiert, beim Mediengipfel in Lech am Arlberg am Wochenende gewinnen. Auf der Bühne tauschten unter der Moderation der Süd-Osteuropa-Korrespondentin Susanne Glass einige hochkarätige Gäste ihre Argumente aus, oder – besser gesagt – sie kreuzten die Klingen: voran der russische Botschafter Sergej Netschajew, der Russland-Experte Gerhard Mangott, der EU-Abgeordnete Eugen Freund oder die Ukraine-Korrespondenten Cathrin Kahlweit von der Süddeutschen Zeitung und Christian Höller von der APA.

Europa habe Konsequenzen nicht bedacht

Die Diskussion verlief stellenweise sehr emotional, etwa als Höller gleich zu Beginn ein Lachen nicht verbergen konnte, als Netschajew mit der Feststellung einstieg, dass es "tragisch ist, was dort passiert. Russland steht in keinem Verhältnis zur Ukraine. Es geht um eine innerukrainische Krise. Russland ist keine Konfliktpartei", was auch für erste erstaunte Unruhe im Publikum führte. Die Debatte wurde an manchen Stellen aber auch überraschend offen geführt, etwa als der Botschafter für sein Land anmerkte: "Wir sind ein bisschen müde, dass man uns ständig die Leviten liest bei Menschenrechten, Demokratie". Der Westen solle aufhören davon zu reden, dass Russland den kalten Krieg verloren habe. Den Streit zwischen dem Westen und Russland führte er dennoch auf viele "Missverständnisse" zurück, gab seiner Überzeugung Ausdruck, dass man doch noch zusammenfindet. Es gebe jedenfalls "ein Lichtchen am Ende des Tunnels", Russland sei bereit, dass eine beizutragen, aber die Lösung müsse zwischen der ukrainischen Regierung in Kiew und den Separatisten in der Ostukraine ausgehandelt werden.

Mangott wies darauf hin, dass Europa eine Politik verfolgt habe, "deren Konsequenzen sie nicht bedacht hat". Moskau habe sich im Jahr 2008 von Europa abgekehrt, Folge der Versuche in der Nato damals, die Ukraine in das Bündnis zu bringen. Die russische Seite habe klar gemacht, dass sie keine weitere Ausweitung der Nato akzeptieren werde. Während sie die Ukraine in eine Eurasische Union bringen wollte, habe die EU versucht, das Land auf seine Seite zu ziehen. Mangotts These: man hätte mit Russland reden müssen, es in die Verhandlungen einbeziehen müssen. Europa habe auch rund um die Maidan-Demonstration eine Reihe von Fehlern gemacht, die zu der nachfolgenden Entwicklung geführt hätten.

Sanktionen hätten Putin gestärkt

Den Sanktionen, die die EU später verhängt haben, gibt der Professor wenig Chance auf Erfolg: "Sie werden die antiwestlichen Kräfte im Kreml, zu denen Wladimir Putin nicht gehört, stärken", eine Erklärung, der Freund widersprach: Man müsse abwarten, denn es stehe außer Zweifel, dass es bereits enorme wirtschaftlichen Schaden für Russland gebe. Für Mangott steht fest, dass die Sanktionen Putin gestärkt, zu einem russisch-nationalen Schulterschluss geführt haben, zur Konfliktlösung nichts beigetragen haben.

Höller hielt dem russischen Botschafter diametral entgegen: Es gebe selbstverständlich den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Es sei aber schwierig zu erkennen, wer in der "Black Box" in Moskau entscheide und welche Strategien dabei verfolgt werden. Höller betonte, dass die russische Behauptung, es gebe in der Ukraine eine in viele Bevölkerungsgruppen gespaltene Gesellschaft, nicht der Realität entspreche. Im Großteil des Landes passiere gerade das Gegenteil. Der Konflikt um die Sprachen werde überschätzt.

Keine Aussicht auf Frieden?

In der Sache noch schärfer widersprach Kahlweit dem Botschafter: Sie könne überhaupt nicht mehr nachvollziehen, welches strategische Ziel Putin verfolge. Das Ganze sei abgeglitten, entspreche nicht mehr einem rationalen Dialog. Zuletzt habe der russische Präsident bei seiner Rede an die Nation "ein fast pubertäres Gefühl, Stärke zeigen zu wollen", an den Tag gelegt. Für die Behauptung Netschajews, wonach "es keinen Beweis für reguläre russische Truppen in der Ostukraine gibt", hatte sie nur Spott übrig: "Ich habe mit diesen Truppen selber geredet. Manche sagen, sie seien Soldaten, andere sagen, sie seien Freiwillige". Diese Truppen hätten keine Hoheitszeichen, aber es sei völlig klar, dass es getarnte Truppen sind: "So was nennt man einen hybriden Krieg", so Kahlweit. Netschajew gestand zu, dass es freiwillige Kämpfer gebe. Was die EU-Sanktionen betrifft, gab er sich hart: Sollte die EU einen "Regimewechsel" in Moskau zum Ziel haben, täusche sie sich: "Diese Freude machen wir ihnen nicht." Das Vertrauen sei verloren gegangen.

Also keine Aussicht auf eine Änderung, auf Frieden? Nein, man habe keine andere Wahl, als auf Basis des Minsker Abkommens über eine Lösung für die Ukraine zu reden. Darüber waren sich praktisch alle Diskutanten dann doch einig. Es müsse zu einer förderalen Lösung kommen. Kahlweit beklagte, dass über die Ukraine hinweggeredet werde von Europäern und Russen, aber die Beteiligten selber gefordert seien. Was die Erklärungen eines Nato-Beitritts der Ukraine betrifft, gab sie sich skeptisch: "Die Mehrheit der Regierungschefs hält das nicht für sinnvoll. Man könne mit Präsident Poroschenko aber über Bündnisfreiheit reden.

Größte Fehlinformation in Europa

Kahlweit sieht das Land auch wesentlich einiger, als von russischer Seite immer wieder behauptet würde. Damit ist sie nicht alleine: "Die vermeintliche sprachliche und kulturelle Spaltung zwischen Ost und West ist wohl die größte Fehlinformation, die in Europa vorherrscht. Diese unterschiedlichen Weltbilder existieren in der Realität nicht", sagt auch eine Beobachterin, die schon für verschiedene internationale Organisationen berichtet hat und derzeit in der Westukraine lebt und arbeitet. "Es gibt in diesem riesigen Land überall absolute Diversität. Menschen mit verschiedenen kulturellen, sprachlichen, wirtschaftlichen, historischen Hintergründen und zeitgenössischem Gedächtnis leben im ganzen Land verteilt. Es gibt unterschiedliche Wahrnehmungen, aber keine Ängste, miteinander zu sprechen und sich anzunähern."

Ein Jahr nach den Maidan-Protesten – die ursächlich eine Studentenbewegung waren – sei zwar die Zivilgesellschaft in die Mitte der Gesellschaft gerückt, am "korrupten System der Universitäten" habe sich allerdings nichts geändert: "Es gibt bis heute viele reaktionäre Rektoren, die unter dem System Janukowitschs ihre Jobs bekommen haben. Unlängst habe ich mich mit Studenten unterhalten, ob sie nun Aktionen starten wollen, den Lehrkörper aufklären, dass man nicht mehr bereit ist, für Prüfungen zu zahlen, dass das gegen den Maidan-Spirit ist. Aber das wollen sie nicht. Es gibt die Auffassung, bei den großen Fischen anzufangen und sich dann erst irgendwann an die Universitäten zu wagen. Das ist doch sehr verwunderlich."

Ukrainischer Patriotismus

Als Kornkammer Europas und Schnittstelle zwischen Ost und West ist die Ukraine seit Christi Geburt umkämpft. Was die aktuelle Situation von der historischen Erfahrung unterscheidet? Heute hätten die Ukrainer eine starke, eigene Identität aufgebaut. "Das feudale wie auch das kommunistische System waren geprägt von Unterdrückung, Spitzelwesen und allen Merkmalen klassischer Diktaturen", sagt die internationale Beobachterin. "Das hat sich geändert. Heute fühlen sich die Ukrainer nicht mehr als Anhängsel der Russen. Sie werden patriotisch. Man ist stolz, Ukrainer zu sein." (Thomas Mayer, Katharina Mittelstaedt, derStandard.at, 6.12.2014)