Wien - "Wenn Sie es sich aussuchen könnten, in welcher Zeit würden Sie gerne als Mensch mit etwa Ihrem Alter und Ihrer sozialen Stellung leben oder gelebt haben? Sie können Ihr Wunschjahr zwischen 1800 und 2100 frei wählen - im welchen Jahr würden Sie gerne leben?"

Diese Frage ließ der STANDARD mehr als 800 repräsentativ ausgewählten Österreicherinnen und Österreichern in den letzten beiden Wochen vorlegen - und förderte damit eine starke Nostalgie zutage: "Im statistischen Schnitt kommt man auf die erste Jahreshälfte 1996, bei den Männern ist es der Herbst 1998, bei den Frauen der Herbst 1993", sagt David Pfarrhofer vom Linzer Market-Institut, das die Befragung durchgeführt hat.

Ältere leben gerne im Jetzt

Je älter die Befragten sind und je besser ihre berufliche Stellung ist, desto näher ist ihr durchschnittliches Wunschjahr der Gegenwart. Und die Parteinähe hat ebenfalls eine große Auswirkung auf das Zeitgefühl der Menschen: Anhänger von ÖVP und Neos sind die beiden Gruppen, deren Durchschnittswert in unserem Jahrhundert liegt, alle anderen gehen davon aus, dass früher wohl alles besser war - zumindest wenn man ihr derzeitiges Alter und ihre derzeitige soziale Stellung hat oder hatte.

Konkret gefragt: "Manche sprechen von der 'guten alten Zeit' - aber war früher wirklich alles besser oder nicht? Welche dieser Aussagen trifft Ihrer Meinung nach am besten zu?"

  • Das Meiste war früher besser - das meinen dann doch nur zehn Prozent - auffallend stark die Wähler der Freiheitlichen.
  • Das Meiste war früher schlechter - ist die Meinung von 20 Prozent, sie wird vor allem von älteren Menschen, von Neos- und Grün-Wählern vertreten.
  • Den Mittelweg - vieles war besser, aber etwa gleich viel schlechter - wählen 62 Prozent.

Nostalgie bezieht sich auf die Kreisky-Jahre

Tatsächlich will auch kaum jemand in der Zeit vor 1950 leben, selbst die oft als gut und alt bezeichnete Kaiserzeit bringt es nur auf ganz vereinzelte Nennungen - "Das ist eher einer Verspieltheit geschuldet. Die als interessant und angenehm vermutete Zeit beginnt in den 1970er-Jahren, also etwa mit der Ära Kreisky", sagt Studienleiter Pfarrhofer.

Bruno Kreisky ist auch einer der wenigen Politiker, der von einer klaren Mehrheit als bis in unsere Tage wirksam eingestuft wird. 67 Prozent der Österreicher - weibliche und ältere Befragte in noch höherem Maße - sehen Kreiskys Einfluss bis heute, nur 28 Prozent sehen in ihm eine bloße Figur der Geschichte.

Klima? Ab ins Geschichtsbuch! Keynes? Wie bitte?

Kreiskys Nachfolger an der SPÖ-Spitze und im Kanzleramt rangieren dagegen samt und sonders nur unter "ferner liefen". Auch Franz Vranitzky, der Österreich in die EU geführt hat, wird nur von jedem vierten Befragten prägender Einfluss auf die Gegenwart zugebilligt - 68 Prozent sehen ihn nur als historische Figur. Viktor Klima und Alfred Gusenbauer werden sogar von jeweils mehr als 80 Prozent in die Geschichtsbücher verbannt.

Bei den ÖVP-Kanzlern ist es Leopold Figl, der die besten Werte erreicht - obwohl Figl beinahe 50 Jahre tot ist, sagen nur sieben Prozent, dass sie ihn nicht kennen. Von den in der Grafik dokumentierten Personen ist nur der Ökonom John Maynard Keynes einer Mehrheit unbekannt - als prägend für unsere Zeit sehen ihn allenfalls Grüne und Neos. Karl Marx kennt fast jeder, besonderen Einfluss billigen ihm die Grün-, Neos- und SPÖ-Anhänger zu.

Keine Sympathien für Hitler

Die bis heute einflussreichste Persönlichkeit der Vergangenheit ist nach dieser Umfrage (und nach vielen ähnlichen internationalen Befragungen) Michail Gorbatschow, der das friedliche Ende des Kalten Krieges ermöglicht hat. Auf einem ähnlichen Niveau liegt Adolf Hitler, "wenn auch vermutlich aus ganz anderen Gründen: Viele Menschen wissen, wie schwer wir an dem unseligen Nazi-Erbe tragen, das er uns hinterlassen hat - Sympathien kann ich da nicht herauslesen, zumal Hitlers Nachwirkungen von jüngeren und höher gebildeten Befragten höher eingeschätzt werden als von der älteren Generation", argumentiert Pfarrhofer.

Zeitempfinden altersabhängig

Tatsächlich ist die Einschätzung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vom Alter der Befragten abhängig. Das hängt auch mit der eigenen Erlebniswelt zusammen: Wer erst zehn Jahre alt ist, erlebt das Warten auf den nächsten Geburtstag als quälend lang - es dauert ja ein Zehntel der Lebenszeit bis dahin. Für einen 50-Jährigen sind es nur zwei Prozent der bisherigen Lebenszeit zum nächsten Geburtstag.

In der Grafik zeigt sich, dass dieses unterschiedliche Zeitempfinden in unterschiedlichen Altersphasen auch verschieden wahrgenommen wird. Die Befragten wurden gebeten, einen Regler einzustellen, mit dem sie angeben konnten, welche Lebensphase ihnen langsam und welche ihnen eher schnell vergangen ist. Es zeigt sich, dass die älteren Befragten spätere Lebensjahrzehnte als schnellerlebig in Erinnerung haben als ihre Jugend. Und auch die einzelnen Aktivitäten dauern gefühlt unterschiedlich lange - am längsten die Fahrt in öffentlichen Verkehrsmitteln. (Conrad Seidl, DER STANDARD, 6.12.2014)