Zeit! Jeder Fußballspieler und Fußballschauer weiß, dass man die nicht hat. Höchstens, dass sie einem noch bleibt. Die wäre dann - Herrgott, wie sich das ziehen kann! - herunterzubiegen, hinter sich zu bringen, kurz: zu schinden. Oder ganz im Gegenteil - Wie schnell drei Minuten doch vorbei sind! - ein letztes Mal alles nach vorn zu werfen. Ein Angriff noch: nein!

Nein: Zeit hat man nicht. Und nehmen kann man sie sich schon gar nicht. Sie wird einem gegeben. Spätestens in der Kabine weiß dann ein jeder eh darum. Weiß, dass man sie hätte nützen müssen, die Zeit, statt sie totzuschlagen. Wie lange erscheinen 90 Minuten; fast so endlos wie dem Volksschüler die Sommerferien. Zwei ganze Halbzeiten: Juli, August! Was Wunder, dass da einmal abgetastet wird. Fußballer kurz nach dem Anpfiff sind wie Kinder beim Doktorspielen: Schau'n mer mal - nicht umsonst ist das eine Fußballweisheit, wenn auch eine bayrische.

Augenblick

Und wie kurz sind die 90 Minuten dann schließlich gewesen. Fast so kurz wie ein Erdenwandel: Die Zeit, ins Spiel zu finden, hat man weit überdehnt. Die, aus ihm was zu machen, war entsprechend zu kurz. Und nach dem Führungstreffer - so donnert der Trainer lauthals den Faust ins betropetzte Gegreine ballesternder Famuli! - hat man sich an der Sonne des ewigen Moments gesonnt. Und verbrannt. Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! Du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, dann will ich gern zugrunde gehn! Und auch in der anderen Kabine hält Mephistopheles reiche Ernte am Seelenacker: So ein Tag, so wunderschön wie heute ...!

Diese pralle Sinnbildhaftigkeit wird üblicherweise übersehen, wenn auf den Sport die Rede kommt. Am ehesten geschieht das noch im Fußball, weil er sich - bis hin zum retardierenden Moment, der faden Viertelstunde zwischen 60. und 75. Minute - am anschaulichsten mit dem Theater und seiner Einheit des Ortes, der Handlung und eben der Zeit verschwistert hat; selbst in seiner nebbichsten Erscheinungsweise noch, der Champions League.

Normalerweise leidet die Wahrnehmung des Sports am infantilen Komparativ, den der verschrobene Baron de Coubertin in die Welt gesetzt hat. Citius, altius, fortius: Das seien die Ecksteine sportlichen Tuns. Schneller, höher, stärker. Also schlicht: besser.

Zeitrahmen und Zeitmaß

Es wäre aber durchaus reizvoll, sich den Sport, quer zum olympischen Motto, einmal nach seinen zeitlichen Dimensionen zurechtzulegen. Disziplinen wie der Fußball, die sich die Zeit als einen Rahmen setzen, in dem dann das Eigentliche passiert, unterscheiden sich ja von jenen, die sie als eine Messlatte zur Hand nehmen, so fundamental, dass von beiden durchaus als von zwei verschiedenen Paar Schuhen zu sprechen wäre. Auch wenn es dann umgekehrt seinen hohen Reiz hat, diese zwei Paar Schuhe von ein und derselben Stimme verbalisieren zu lassen. Edi Finger hysterisierte in Córdoba 1978 Hans Krankl so sehr, dass der Mann gewissermaßen hängenblieb im ewigen Augenblick des jubilierenden und jubilierten Buben. Aber nicht minder tat der legendäre Finger das mit sich tremolierend überschlagender Stimme auch bei Franz Klammer zwei Jahre zuvor. Olympia in Innsbruck. Abfahrt. Der hohe Favorit zaubert sich übers schwankende Hochseil des Patscherkofels abwärts: 1:42, 1:43, 1:44, 1:45 ... Bestzeit! Fingers gelungene Hysterie diente dem ORF noch Jahrzehnte später als Signation für seine Skiübertragungen.

Da allerdings ist der Skisport längst schon in hohem Maße einer wohl nicht mehr rückbaubaren Verschröcksnadelung unterzogen worden, wie sich das In-eins-Fallen, die Vermählung von Sport und Fernsehen, nennen ließe. Fernsehgerecht! Das war so lange ein häufig in den Mund genommener Begriff, bis er dann endlich ins Werk gesetzt worden ist. Die Zeit, die es braucht, einen Berg auf vier verschiedene Arten hinunterzufahren, wurde solcherart auf eine handhabbare Sendezeit zurechtgeschneidert; inklusive jener Aus-Zeiten, die es braucht, um innerhalb der öffentlich-rechtlichen Schranken schnell noch einen Werbespot unterzubringen. Desgleichen geschah mit den nordischen Disziplinen und vielen, vielen, vielen anderen Sportarten.

Der Teufel und die Wisbi-Strecke

Am wenigsten Schwierigkeiten dabei, halsbrecherisch das Hasardspiel des Doktor Faust zu versuchen - als wäre der Pakt mit dem Teufel bloß eine Art Wisbi-Strecke -, hatten Sportarten wie Tennis, deren Begriff von der Zeit dem der Oma vom Strudel entspricht. Es sei denn, ein sich ziehendes Tiebreak kollidiert blöderweise mit Bernie Ecclestone oder der Sportart einer vergleichbaren Figur. Dann gilt es, das Pfand - die Seele - einzulösen. Dann wird schnell klar, wer der Herr ist und wer das G' scherr. Weil, ja: Zeit ist Geld.

Im Fernsehen gilt das so buchstäblich, dass es vielen Sportarten tatsächlich seinen Zeitbegriff aufdrücken konnte bis hin zu den Fis-Durchführungsbestimmungen, wonach der Zeitraum für die Unterbrecherwerbung Disziplin-notwendige Pausen wären.

Verspätete Echtzeit

Vom Fußball als jener Sportart, die weltweit am meisten fasziniert, wünscht man sich solches noch weitgehend vergeblich. Aber die Bollwerke bröseln bereits. Das Jetzt im Hier des Spielplatzes mutiert unter den Auspizien der Gottobersten der Ballesterei allmählich zur bloßen Echtzeit. Die Fifa produziert sich das Fernsehsignal selber, um es zeitversetzt in die Welt zu blasen, damit sich im Fall des Falles korrigierend der Wirklichkeit in den Arm fallen ließe und tatsächlich lässt. Flitzer flitzen in Wirklichkeit nur, wenn nicht die Fifa überträgt. Überträgt die Fifa, dann tun sie es höchstens virtuell, also bloß im Stadion. Die Frage, wie wirklich die Wirklichkeit in Wirklichkeit wirklich ist, hängt sich so an den Begriff von der Zeit.

In beinahe senilem Trotz verweigert sich der Fußball allerdings weiterhin der Einsicht, dass, um die Wirklichkeit wirklich zu machen, es gelte, die Zeit anzuhalten. Erst der Videobeweis durch die Zeitlupe könne der Wirklichkeit das Echtheitszertifikat verleihen. Mehrmals pro Match - im Eishockey werde das vorbildlich schon praktiziert - müsse zum Time-out gerufen werden dürfen, um im Fernsehen das Gesehene zu vidieren. Die Wirklichkeit strotze doch vor strittigen Szenen. Die gelte es, in Ruhe noch einmal zu prüfen. Immerhin gehe es um sehr viel Geld.

Weise

Das wäre dann der endgültige Triumph des Fernsehens, das seinerseits auch schon unterm Echtzeitdruck steht durchs Dauergeraune, in dem nichts ist, solange es nicht im Netz ist. Nicht von ungefähr erinnert das an die uralte Verwaltungsweisheit. "Quod non est in actis non est in mundo."

Die Hoheit über die Zeit, um die der Fußball kämpft wie Don Quixote, ist seine ästhetische Qualität, sein Aus-der-Zeit-gefallen-Sein. Ein Kampf, den die Kunst schon hinter sich hat, wie in den 1930er-Jahren der Kunstphilosoph Walter Benjamin hellsichtig thematisiert hat. Nun ist auch der Sport schon großflächig im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Nur der Fußball hält verzweifelt daran fest, dass er, wie einst das Kunstwerk, mit anderen Uhren zu stoppen sei. Weil er so etwas hätte wie eine Aura. Die aber ist bloß der Umstand, dass, was geschieht, gleich danach geschehen ist. "Life", so ließe sich sagen, "is life." Und nicht "Live is life", wie manche glauben machen möchten. (Wolfgang Weisgram, DER STANDARD, 6.12.2014)