Die ersten Meldungen über einen Atomunfall in der Südostukraine erinnerten am Mittwoch an jene über das AKW Tschernobyl in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik im April 1986: Was zunächst - auch in den Berichten nach Moskau - verharmlost worden war, stellte sich als die (bis heute) größte Katastrophe in der Geschichte der zivilen Nutzung der Kernenergie heraus: totale Kernschmelze eines Reaktors mit folgender Explosion, also ein GAU, der größte anzunehmende Unfall.

Trotz der Entwarnung durch den ukrainischen Energieminister ist Skepsis geboten, wie verlässlich Informationen aus der Ukraine sind, aus welcher Quelle immer. Das gilt auch für den Bürgerkrieg im Osten des Landes, wo wieder einmal eine Waffenruhe angekündigt wurde. Um in der AKW-Terminologie zu bleiben: Die Ukraine-Krise hat weiter das Potenzial zu einem geopolitischen GAU.

Wladimir Putin hat das Gaspipeline-Projekt South Stream gestoppt. Das ist auch eine Folge davon, dass die westlichen Sanktionen zu wirken beginnen. Ein Entspannungssignal ist es deshalb noch lange nicht. Wer sich in die Enge getrieben fühlt, neigt zu irrationalen Reaktionen. Je mehr die russische Wirtschaftskrise auf das Alltagsleben der Menschen durchschlägt, desto mehr wird Putin die Schuld dafür feindlichen Kräften im Westen geben, die ja schon immer Russlands Verderben gewollt hätten.

In ihrer Zusammensetzung liefert die neue ukrainische Regierung solchen Verschwörungstheorien, der bekanntlich auch im Westen viele anhängen, neue Nahrung. Eine US-Amerikanerin, die zwar schon 20 Jahre lang im Land lebt, zuvor aber im Außenministerium in Washington arbeitete, als Finanzministerin; ein Litauer als Wirtschaftsminister; und ein Georgier als Gesundheitsminister - alle drei unmittelbar vor ihrer Ernennung per Präsidentenerlass eingebürgert: Bessere Argumente könnten sich Putin und seine Versteher jeglicher Couleur kaum wünschen. Alle drei Regierungsmitglieder stammen aus "Frontstaaten" und leiten nun Schlüsselressorts in Kiew.

Die Frage, ob diese Personalentscheidungen angesichts der tobenden Propagandaschlacht klug waren, ist berechtigt. Präsident Petro Poroschenko und Premier Arseni Jazenjuk begründeten den "unorthodoxen" Schritt mit der Notwendigkeit radikaler Reformen und eines entschlossenen Kampfes gegen die Korruption.

Man kann annehmen, dass sich Präsident und Premier des Risikos bewusst sind, die diese Ernennungen in sich bergen. Offenbar scheint ihnen das Signal, das sie damit aussenden, wichtiger: Wir stehen wirtschaftlich mit dem Rücken zur Wand und müssen den Ernst der Lage auch mit unkonventionellen Personalentscheidungen verdeutlichen. Das Signal richtet sich nach innen und nach außen. Es ist ein Hilferuf, mit dem sich die Führung in Kiew auch selbst unter enormen Druck setzt. Wenn sie nicht bald für die Bürger nachvollziehbare Reformerfolge liefert, kann die Lage auch im freien Teil der Ukraine unkontrollierbar werden.

Die EU hat am Mittwoch weitere 500 Millionen Euro für Kiew freigegeben. Angesichts des Ausmaßes und des Potenzials der Krise sind das Peanuts. Gewiss: Die Hilfe ist an konkrete Reformerfolge zu knüpfen. Aber zugleich müssen auch die Kosten eines geopolitischen GAUs klar sein. Ob uns das gefällt oder nicht: In der Ukraine wird über Europas Zukunft entschieden. (Josef Kirchengast, DER STANDARD, 4.12.2014)