Salzburg - Tabletten gegen Ängste, Ärger, Traurigkeit, Unruhe, Schlaflosigkeit: Die von der Bewohnervertretung festgestellte Steigerung bei der Verabreichung von Psychopharmaka in den österreichischen Seniorenheimen beschäftigt bereits den Nationalrat. In einer auf einem STANDARD-Bericht basierenden Anfrage an Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser (SPÖ) will die FPÖ unter anderem wissen, wie viele Psychopharmaka in den Heimen jährlich verabreicht werden.

Die Chancen, dass Oberhauser exakte Zahlen liefern kann, stehen schlecht. Es gebe keine Daten über den Einsatz solcher Medikamente in den rund 900 österreichischen Seniorenheimen, sagt der Leiter der Bewohnervertretung für Tirol und Salzburg, Erich Wahl.

Jeder Zweite

Aber es gebe Daten aus Deutschland, die man auf Österreich umlegen könne. Demnach dürfte jeder zweite Heimbewohner Psychpharmaka erhalten. Und es gibt Daten zur psychischen Gesundheit der Österreicher. Aus einer 2011 publizierten Studie des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger und der Salzburger Gebietskrankenkasse geht hervor, dass jede zweite Österreicherin, die über 80 ist, Psychopharmaka erhält. Dies dürfte bei älteren Menschen in Heimen "eher stärker ausgeprägt sein", heißt es dazu bei der Salzburger Kasse.

Die Bewohnervertretung - sie vertritt ex lege alle Personen, die in Senioren-, Jugend- oder Behindertenheimen untergebracht sind - macht inzwischen weiter Druck. Dabei gehe es gar nicht so sehr um neue gesetzliche Regelungen, sondern in erster Linie um die Einhaltung bestehender, sagt Wahl.

"Schwere Behandlung"

Oftmals würden nämlich Psychopharmaka ohne Zustimmung der Patienten oder - wie bei Demenzkranken notwendig - ohne Zustimmung der Sachwalter verabreicht. Da aber die Gabe von Psychopharmaka eindeutig eine "schwere Behandlung" darstelle, stehe die jetzige Praktik im eklatanten Gegensatz zum gesetzlich festgeschriebenen Selbstbestimmungsrecht der Patienten.

Gert Wiegele, in der Ärztekammer für die Agenden der Allgemeinmediziner zuständig, reagiert auf den Vorstoß der Bewohnervertretung skeptisch: Wenn er bei einem Heim mit 40 Bewohnern bei jeder Medikation vorher die Zustimmung der Sachwalter einholen müsse, "hört sich meine Arbeit auf", verweist der Mediziner auf den zusätzlichen Verwaltungsaufwand.

Defizite im Personalbereich

In der Sache selbst ist der Kärntner Arzt, der selbst ein Heim betreut, dem Anliegen der Bewohnervertretung freilich durchaus aufgeschlossen. Zwar sei ihm "ein gutes Medikament lieber als die mechanische Fixierung" eines unruhigen Bewohners, das größte Defizit ortet Wiegele aber im Personalbereich: "Es gibt Heime mit einem katastrophalen Personalschlüssel." Wenn in einem Heim mit 60 bis 80 Bewohnern nur eine diplomierte Pflegekraft und zwei Pflegehelfer Nachtdienst hätten, sei das zu wenig. "Einmal in der Woche tanzen und einmal in der Woche basteln" sei zu wenig Therapie, sagt Wiegele.

Und in noch einem gibt Wiegele den Bewohnervertretern recht. Manchmal würden die Pillen eingesetzt, um den institutionellen Heimablauf mit fixen Essens- und Schlafenszeiten aufrechtzuerhalten. Der Begriff "Sozialpharmaka" treffe da den Kern ganz gut. In manchen Heimen würden sich die Abläufe nach dem Dienstwechsel des Personals und nicht nach den Bedürfnissen der Bewohner richten. (Thomas Neuhold, DER STANDARD, 4.12.2014)