Europas Strombranche befinde sich im "Tal der Tränen", diagnostizierte Günther Strobl unlängst im Standard. Betroffen seien auch Stromriesen wie Eon (Deutschland), Edf (Frankreich) und der für Österreich riesige Verbund. Der Speck, den die Stromriesen in fetten Jahren angesammelt haben, sei großteils weg, jetzt würden magere Jahre folgen.

Wie lange die Reise durch das "Tal der Tränen" für die Stromerzeuger dauern wird, weiß man nicht. Sehr wohl aber kennt man die Verursacher. Es sind die Erneuerbaren. Ihre wesentlichen Vertreter arbeiten mit Luft und Licht, beides ist in der Primärenergieaufbringung kostenlos und daher fossilen und atomaren Energieumwandlern fast unanständig hoch überlegen. Zusätzlich wurde den Windverstromern und den Fotovoltaikern seit der Jahrtausendwende eine Starthilfe zuteil, die zwar nicht annähernd an jene heranreicht, die die Fossil-Atomaren in der Vergangenheit kassierten und immer noch kassieren, sie hat aber gereicht, um die "Energiewende" auszulösen.

Nun gut, heute ist nicht gestern. Der vermehrte Zufluss von Sonnen- und Windenergie hat den durchschnittlichen Marktpreis des Stroms in den letzten Jahren von circa acht Cent pro Kilowattstunde unter vier Cent gedrückt und damit mehr als halbiert. Dies führte zu Rentabilitätsproblemen von Gas- und Atomkraftwerken.

Die konventionellen Stromversorger haben die aufkommenden Erneuerbaren lange unterschätzt, wenn nicht überhaupt ignoriert und standen daher, wie es der Chef des schwedischen Stromkonzerns Vattenfall, Tuomo Hatakka, ausdrückte, plötzlich vor einem "Solarmonster" - eine steile Karriere für die ehemaligen "Solarzwerge". Nicht weniger gruselig macht Verbund-General Wolfgang Anzengruber eine "Blutspur" aus, die die Erneuerbaren in der Stromlandschaft hinterlassen hätten. Anzengruber fordert "freie Marktwirtschaft" statt "Planwirtschaft", als seien die bisherigen Stromkonzerne in der freien Marktwirtschaft entstanden. Eon-Chef Johannes Teyssen gesteht ein, dass die simple vertikale Struktur - hier Erzeuger, dort Kunde - nicht zu halten und der Dialog mit dem Kunden überlebenswichtig sei. Vor zwei Tagen kündigte der Konzern an, seine Atom-Kohle-Gas-Sparte in eine neue Gesellschaft auszulagern.

Nun hat das "Tal der Tränen", durch das die Strombosse derzeit marschieren, den Vorteil, dass man sich dort Ausheulen kann, ohne sich genieren zu müssen. Ob am Ende des Weges der Weltuntergang mit Heulen und Zähneknirschen wartet oder ein sich lichtender Tunnel, wird wiederum von der Läuterungsbereitschaft der Wanderer abhängen. Vielleicht erkennt der eine oder andere Stromboss, dass das hohe Ross, auf dem er lange geritten ist, längst zum Schaukelpferd mutierte.

Wäre es nicht hoch an der Zeit, dass sich die von Blutspuren und Solarmonstern traumatisierte E-Wirtschaft aus der Verkrampfung löst und echte Zukunftsperspektiven entwickelt? Wer versucht, die Energiewende vom fossil-atomaren zum solaren System aufzuhalten, ist ohnehin sehr spät dran, der Zug fährt nämlich schon, und das gar nicht langsam. Bekanntlich ist nichts mächtiger als ein Gedanke, dessen Zeit gekommen ist.

Vorschlag zur Güte

Ein Vorschlag zur Güte: Wie wäre es, wenn man daranginge, neue Zukunftsmärkte für elektrischen Strom zu erobern? Derzeit liegt der Anteil von elektrischem Strom am Gesamtenergieaufkommen in Europa bei ziemlich exakt 20 Prozent. Wer denkt ernsthaft über die Frage nach, wie und in welchem Ausmaß man die verbleibenden 80 Prozent, vorwiegend fossiler Energie, durch elektrischen Strom ersetzen könnte?

Strom kann und wird in Zukunft sauber und nachhaltig erzeugt werden. Es gibt also keinen Grund, sich für das Produkt zu genieren. Natürlich hat Energieeffizienz absoluten Vorrang. Das heißt aber nicht, dass man auf eine sinnvolle Erweiterung des Marktumfelds verzichten muss. Zukunftsträchtig ist elektrischer Strom für das Mobilitätssystem. Schwieriger, aber nicht weniger attraktiv ist er bei der Wärmeversorgung. Dabei geht es nicht um eine Wiederbelebung der alten Elektroheizung. Vielmehr gilt es, in Zusammenarbeit mit der Elektroindustrie, mit der Bau- und Immobilienwirtschaft eine intelligente und attraktive Wärmeversorgung neu zu entwickeln.

Wenn die E-Wirtschaft Speichersysteme für Strom als Angriff auf ihr Marktsegment sieht, so liegt sie doppelt falsch. Ihre Absatzmöglichkeiten im Bereich der Mobilität, der Raum-, aber auch der industriellen Prozesswärme sind gigantisch groß. Sie müssen ausgelotet und erobert werden. Zwar stimmt es, dass es derzeit mehr Strom als Markt gibt. Sicher ist auch, dass die Probleme der traditionellen Energiewirtschaft, wie etwa Stromüberschuss und Mangel an geeigneten Transportkapazitäten, die Probleme der Erneuerbaren von morgen sind. Was läge näher, als gemeinsame Wege in Richtung gesicherter und sozialer Stromversorgung zu gehen? (Hans Kronberger, DER STANDARD, 4.12.2014)