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Wir ticken immer noch gleich wie früher. Lediglich das Umfeld hat sich geändert.

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Detlev Ganten ist emeritierter Professor, Facharzt für Pharmakologie und Molekularmedizin. und seit 2009 Präsident des World Health Summit.

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derStandard.at: Was versteht man eigentlich unter Evolutionsmedizin?

Ganten: Evolutionsmedizin ist eine neue Wissenschaft. Sie ist dadurch entstanden, dass es durch die molekulare und Genom-Analyse möglich ist, alle Etappen der Entstehung der Lebensformen und Arten und der Menschwerdung im Erbgut nachzuvollziehen. Das Leben ist vor etwa 3,5 Milliarden Jahren entstanden. Heute ist das menschliche Genom entziffert. Innerhalb von 14 Tagen können wir heute auch das Genom von Einzellern, Fischen, Amphibien, Reptilien, Primaten und Affen analysieren, das heißt wir kennen alle Entwicklungsstufen der Evolution bis zum homo sapiens. Wir verstehen die Biologie des Menschen aus der Evolution heraus. Das ist ein Riesenschritt für neue Erkenntnisse.

derStandard.at: Hat dieser neue Zugang schon in das medizinische Denken der praktizierenden Ärzte Einzug gehalten?

Ganten: Nein, diese neue Wissenschaft ist noch keineswegs in den Köpfen und Lehrbüchern der heutigen Schulmedizin angekommen. Wenn man heute zum Arzt geht, dann fragt er immer, weshalb kommen sie, wann hat es angefangen mit den Symptomen? Gibt oder gab es diese Krankheit auch in der Familie? Wie ist das bei Eltern, Kindern, Geschwistern oder Großeltern? Der Arzt fragt also nach der persönlichen und Familiengeschichte. Der Evolutionsmediziner kann zusätzliche Informationen aus dem größeren Zusammenhang der Geschichte des Lebens erschließen. Mediziner sind ja traditionell eher konservativ. Bevor etwas Neues übernommen wird, muss man zeigen, dass es besser ist als das Alte. Im Interesse der Patienten ist ein solches Denken auch richtig. Der Ansatz der Evolutionsmedizin ist aus meiner Sicht aber so grundlegend anders, dass sich daraus eine neue Richtung der Medizin entwickeln wird.

derStandard.at: Welche Antworten gibt diese neue medizinische Herangehensweise auf die Entstehung von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck?

Ganten: Die Antwort auf diese Frage ist kurz und knapp: Wir verstehen jetzt, weshalb wir krank werden. Evolutionär sind wir optimiert für Überleben und Reproduktion. Ein großer Teil unserer Krankheiten entsteht aber daraus, dass wir evolutionär mit ganz alten biologischen Systemen und "Patenten" arbeiten. Wie Zellen funktionieren, ist eben Milliarden von Jahren alt. Vom Grundsatz her funktioniert der Einzeller genauso wie die einzelne Zelle heute bei uns. Viele der Organe, die wir haben, sind in der Evolution vor langer, langer Zeit entstanden. Das Kreislaufsystem etwa finden wir schon bei den Fischen seit 400 Millionen Jahren. Fische haben auch schon ein Gehirn. Der Fisch hat sich maximal an das Leben im Wasser angepasst. Der Mensch ist aber ein Landlebewesen. Wir haben daher in der Evolution als Überlebensvorteil Organe entwickelt, die Wasser und Salz im Körper zurück halten. Der Kreislauf wäre sonst nicht stabil geblieben beim Leben in der heißen Savanne wo unsere Vorfahren mit dem Schweiß viel Salz und Wasser verlieren. Jetzt in der modernen Welt trinken wir viel, essen viel, das heißt wir brauchen diese Mechanismen, um Salz und Wasser zurückzuhalten nicht mehr in dieser Form. Unterschwellig laufen diese alten ererbten Dinge aber weiter. Daher werden zu viel Salz und Wasser im Körper zurückgehalten und dann steigt der Blutdruck. 50 Prozent der Erwachsenen haben hohen Blutdruck, und das ließe sich durch weniger Salzkonsum deutlich reduzieren. Der Mensch bräuchte etwa drei Gramm Salz pro Tag, um den Bedarf zu decken, und wir essen durchschnittlich zwischen zehn und dreißig Gramm. Gerade die Industrienahrung enthält viel zu viel Salz. Wir werden also krank, weil unsere alte Biologie nicht der modernen Lebensweise entspricht. Ich nenne das gerne die "Evolutionsfalle".

derStandard.at: Eine andere Zivilisationskrankheit, die leider viel zu stark im Vormarsch ist, ist Diabetes. Wie ist hier der evolutionsmedizinische Zusammenhang?

Ganten: In der Evolution ist es immer so gewesen, dass sich die Lebewesen so lange vermehrt haben, wie die Nahrungsressourcen ausgereicht haben. Überlebt haben die, die mit Mangel gut umgehen konnten, also gute Futterverwerter waren. Das sind auch die Menschen. Wenn wir zu viel, zu süß, zu fett essen, dann ist das, was evolutionär mal ein Vorteil war, jetzt schädlich für uns. Gerade die preisgünstige Industrienahrung enthält viel Salz, Fett und Zucker. Das nimmt der Mensch auf und so kommt es zu Übergewicht und Zuckerkrankheit mit all ihren Begleiterscheinungen. Warum wir trotzdem immer noch den Drang haben, zu viel zu essen, kann man auch aus der Evolution heraus erklären. Wir haben auch heute noch das Gefühl, dass es gut sei, wie früher in Mangelsituationen, auf Vorrat zu essen. Das ist in der modernen Welt dann ein verhängnisvolles Verhalten. Hinzu kommt der Bewegungsmangel, denn wir sind evolutionär zum Laufen geboren. An Kindern sieht man das uns innewohnende Bewegungsbedürfnis ganz deutlich. Erst durch die Erziehung wird ihnen das abgewöhnt. Wir sollten uns also rückbesinnen auf die Ursprünge unserer Biologie und unser Verhalten bewusst danach einrichten, dann können wir viele Zivilisationskrankheiten vermeiden.

derStandard.at: Was halten sie von dem neuen Trend unter den Diäten, der so genannten Paleodiät, sich also wieder so zu ernähren wie die Steinzeitmenschen? Das heißt, ohne Getreide und Milch.

Ganten: Paleodiät ist so ein Modewort, das auf der Ökowelle reitet: "Wenig Industrie, alles Paleo, alles Natur". Dabei gibt es bei diesen Diäten ganz unterschiedliche Empfehlungen, ob und wie viel Fleisch, Eier oder Zucker man zu sich nehmen soll. Mit der ursprünglichen Ernährung unserer Vorfahren hat das meist nur sehr wenig zu tun. Die Menschen sind ja vor etwa erstmals 500.000 Jahren aus Afrika ausgewandert und haben in vollkommen unterschiedlichen Regionen gelebt, im Mittelmeerraum, in Europa, in Sibirien und sogar im Polarkreis. Dort haben sie sich natürlich ganz unterschiedlich ernährt. In den nördlichen Regionen haben sie fast ausschließlich Fisch gegessen, in der Savanne wahrscheinlich zum großen Teil vegetarische Kost, in Regionen mit vielen Tieren wurde gejagt. Das heißt, steinzeitliche Diät ist eine vielfältige Diät. Einseitig war sie allerdings je nach regionalem Angebot. Wenn nun jemand sagt, unsere Vorfahren hätten so und so gelebt, dann ist das nicht richtig. In der Neusteinzeit haben sich dann die Gene auch an das andere Nahrungsangebot wie Milch und Getreide angepasst. Die Laktoseintoleranz ist in dieser Zeit dort verloren gegangen wo Milch zum Überleben wichtig war, in den ersten Agrar-Gesellschaften. Ich halte insgesamt eine vielfältige Ernährung für am günstigsten. Für Einseitigkeit ist der Mensch nicht geschaffen. Jeder sollte darüber hinaus darauf achten, was er gut verträgt. Das ist in der Regel dann auch gut für ihn. Ernährung und Bewegung und Achten auf ein vernünftiges Körpergewicht sind besonders wichtige Verhaltensweisen für die Gesundheit.

derStandard.at: Wie und wann werden die Prinzipien der Evolutionsmedizin Eingang finden in die Ausbildung einer neuen Ärztegeneration?

Ganten: So schnell wie möglich. Ich bin überzeugt davon, dass die Vertreter der neuen Richtung so überzeugend darüber schreiben und argumentieren werden, dass daran kein Weg vorbei geht . Ich glaube, dieser Prozess wird rasch fortschreiten. Die Medizin, die wir derzeit betreiben, erfordert einen enormen, auch finanziellen, Aufwand. Der Trend heute ist ja die so genannte personalisierte Medizin. Wir diagnostizieren ganz genau die jeweilige Krankheit mit all ihren Unterformen und Ausprägungen. Für jede dieser Unterformen werden neue Medikamente entwickelt, zum Teil sehr wirksam, was aber immer aufwändiger wird und sich kaum noch jemand leisten kann. Zurzeit geben wir schon elf Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Gesundheitsaufgaben aus, und die Gesundheitsausgaben wachsen schneller als das Bruttoinlandsprodukt. Das ist in allen reichen Ländern so, das kann sich eine Volkswirtschaft auf lange Sicht nicht leisten. Wir können es uns nicht leisten, darauf zu warten, dass die Menschen krank werden. Wir müssen im Vorfeld Gesundheit fördern. Die evolutionäre Medizin ist ein Weg, Gesundheit zu fördern, indem wir unseren Körper besser kennen lernen und die Schlussfolgerungen daraus ziehen. Hilfe für Kranke bleibt natürlich immer eine wichtige Herausforderung aber Aufgabe der Medizin ist es ja schon jetzt Gesundheit zu bewahren. Dafür müssen die neuen Erkenntnisse vermehrt eingesetzt werden. Ein systematisches Umdenken in diese Richtung muss erfolgen. In den USA an der Texas University gibt es seit einem Jahr schon einen Lehrstuhl für Evolutionäre Medizin. Ich könnte mir gut vorstellen, dass das neu gegründete Berliner Institut für Gesundheitsforschung auch irgendwann einen solchen Lehrstuhl einrichtet. Das ist moderne Translation von Wissenschaft in Gesundheit.

derStandard.at: Wie wird die Evolution den Menschen in Zukunft verändern? Wagen Sie einmal eine Prognose ...

Ganten: Die Veränderungen des Menschen hängen eng mit den Veränderungen seines Genoms zusammen. Wie sich das verändert kann keiner vorhersagen. Aber sicher ist, die Evolution geht unaufhaltsam weiter. Der Mensch ist eine Mischung von zwei Genomsätzen, des Vaters und der Mutter. Die Zellteilungen, die im Mutterleib zur Entstehung eines neuen Menschen führen, sind so willkürlich, chaotisch und unvorhersehbar, so dass Zukunftsaussagen unmöglich sind. Das ist auch gut so. Jeder Mensch ist daher einzigartig, auch eineiige Zwillinge. Die Evolution ist ohne Ziel. Wie sich kulturelle Umstände ändern, Stichwort: Urbanisierung, ist auch nicht prognostizierbar aber menschengemacht und beeinflussbar. Das Geheimnis der Entstehung des Lebens bleibt. Die Entwicklung der Stufen der Evolution können wir aber immer besser verstehen und das sollten wir uns zu Nutze machen. (Karen Schröder, derStandard.at, 4.12.2014)