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Werden Wildschweine nur von Wölfen, nicht aber von Menschen gejagt, sieht das Zusammenleben der Tiere ganz anders aus: Keiler sind dann sehr viel öfter Teil der matriarchal organisierten Gruppe.

Foto: APA/dpa

Bialowieza/Wien - Wildschweinkeiler sind Einzelgänger, die nur zur Paarungszeit ab dem Spätherbst zu den Mutterfamilien stoßen und sich den Rest des Jahres meist allein durch den Wald schlagen. Das galt zumindest bisher als anerkannte Lehrmeinung.

In völlig freier Wildbahn allerdings und ohne Jagd sieht die Sache ganz anders aus, berichten Wissenschafter des polnischen Instituts für Säugetierforschung in Bialowieza und der italienischen Universität von Sassari im "Journal of Zoology".

Das Team um Tomasz Podgórski untersuchte in den Wäldern von Bialowieza an der polnisch-weißrussischen Grenze das Sozialleben von Wildschweinen und deren Verwandtschaftslinien. Dazu fingen die Forscher zunächst die Tiere mit Käfigen und Netzen ein, betäubten sie, entnahmen Haar- und Gewebeproben, bestimmten anhand der Zähne das Alter und statteten die Wildschweine mit Radiosendern aus, um ihren Bewegungsradius zu ermitteln.

Rotten liefern Überraschung

In diesem letzten Tieflandurwald Europas ist die Jagd auf weibliche Wildschweine verboten. Und das hat erhebliche Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Rotten. In den Wildschweingruppen laufen dann reihenweise ausgewachsene Keiler mit. Die Forscher stellten fest, dass 36 Prozent der erwachsenen Tiere in den Rotten männlich sind - ein sehr überraschender Befund, der nicht nur für die sogenannte Rauschzeit von Oktober bis Jänner zutrifft.

Wildschweinrotten sind wie Matriarchate organisiert, in der Gruppe sind die Wildschweine besser geschützt, haben gemeinsam besseren Zugang zu Nahrung und Informationen. Meist ist die Leitbache mit einer Gruppe von Frischlingen, Einjährigen und anderen Bachen unterwegs. Während der weibliche Nachwuchs dazu neigt, auf Dauer bei der Mutter zu bleiben oder eigene Rotten zu gründen, lösen sich die meisten Männchen im zweiten Lebensjahr von der Rotte und sind als Keiler in der Regel allein unterwegs. Das vermeidet Inzucht.

Warum ist es aber im "Urwald" anders? Die Erklärung der Zoologen: Wegen des fehlenden Jagddrucks auf Muttertiere gäbe es in den Rotten reichlich fortpflanzungsfähige Bachen. Und die sind alle polygam. Für dazustoßende Keiler sei die Konkurrenz bei der Partnersuche daher eher gering. Das Zusammenleben im Verbund fällt so leichter.

Die genetischen Untersuchungen der Forscher zeigten außerdem: Je näher die Tiere räumlich beieinander waren, desto stärker waren sie miteinander verwandt. Auffällig auch: Der Abstand, den die meisten Keiler zu den Rotten halten, ist in Bialowieza im Durchschnitt relativ gering - jedenfalls geringer als angenommen.

Wo sich Keiler den Rotten zugesellen, erhöht das aber noch nicht zwingend das Inzuchtrisiko. Laut der Studie waren die Wildschweine einer Rotte umso weniger nah miteinander verwandt, je größer die Rotte war. Der Genaustausch funktioniert also auch dann, wenn die Tiere sich sozial neu organisieren und vermehrt Keiler in die Rotte aufnehmen. (Kai Althoetmar, DER STANDARD, 3.12.2014)