Barbara Yelin
Irmina

Reprodukt 2014
288 Seiten, Hardcover, 39 Euro

Barbara Yelin/Reprodukt Verlag

"Es war für mich sehr wichtig zu zeigen, wie die Leute reagiert haben auf Situationen, in denen offensichtlich Juden misshandelt und deportiert wurden", schildert die deutsche Comicautorin Barbara Yelin.

privat

London 1934. Irmina ist 19 Jahre alt, als sie von der britischen Metropole förmlich aufgesaugt wird. Sie macht eine Ausbildung zur Fremdsprachensekretärin, wohnt bei einer großbürgerlichen Familie und nimmt an deren mondänem gesellschaftlichen Leben teil. Bei einer Party lernt sie den dunkelhäutigen Howard aus Barbados kennen, der mit vollem Ehrgeiz sein durch ein Stipendium ermöglichtes Studium in Oxford betreibt.

Die beiden verlieben sich trotz aller rassistischen Ressentiments, die ihnen entgegenschlagen. Das selbstbewusste, bisweilen sture junge Mädl sieht es geradezu als Herausforderung an, ihren Freund, der gern als "Darkie" und "Bettelstudent" belächelt wird, lautstark zu verteidigen. Paradoxerweise muss sie sich im Gefolge des Aufstiegs Hitlers von den Briten "Nazifräulein" schimpfen lassen.

Kaum vorstellbar, dass sich die Bezeichnung als selbst erfüllende Prophezeiung entpuppt: Aufgrund einer Kette von Umständen bricht Irmina 1935 wieder nach Deutschland auf - und lässt dabei nicht nur ihre Liebe, sondern auch ihre Freiheit und ihr selbstbestimmtes Leben zurück. Aus der vor Wissensdurst sprühenden Irmina wird eine immer verhärmtere Frau, die einen SS-Mann heiratet, sich in das System eingliedert und die Augen vor dem Nazi-Regime verschließt.

Barbara Yelin hat die Geschichte ihrer Großmutter als Ausgangspunkt für den großartigen Comic-Roman "Irmina" verwendet. Mit schwungvollem, ausdrucksstarkem Strich illustriert sie die beklemmende Wandlung der unabhängigen Frau zur Mitläuferin. Im Interview spricht die Comic-Künstlerin über unbequeme Antworten und die Stilmittel des Wegschauens.

STANDARD: Wie sind Sie auf die Geschichte Ihrer Großmutter gestoßen?

Yelin: Ein paar Geschichten kenne ich noch von ihr selbst. Sie ist vor mehr als 15 Jahren gestorben, deshalb sind die Puzzleteile, die ich mehrheitlich verwendet habe, aus ihrem Nachlass, aus Briefen, Fotos, Dokumenten. Diese Bruchstücke waren so lückenhaft, dass ich sehr viel ergänzen musste. Ich wollte mir aber auch bewusst die Freiheit der Erzählerin nehmen. Es ist keine Biografie, kein Sachbuch, sondern eben ein Comicroman geworden.

STANDARD: Was war Ihr Antrieb, diese Geschichte zu verarbeiten?

Yelin: Es ging mir darum, diesen großen Widerspruch zu ergründen, zwischen der jungen nonkonformistischen Frau, die sich gar nicht anpassen will, nach England geht und sich dort verliebt und der Frau, die trotz ihrer Entscheidungsfreiheit nach Deutschland zurückgeht, den Nationalsozialisten heiratet und sich unterordnet - das ist biografisch vorgegebenes Material. Diese Frage hat mich sehr beunruhigt. Da fängt man als Zeichnerin und Erzählerin an, daran zu arbeiten. Ein grundsätzlicher Motor ist für mich, dass ich vorher nicht genau weiß, was herauskommen wird.

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Barbara Yelin/Reprodukt Verlag

STANDARD: Konnten Sie letztlich etwas herausfinden über diesen Widerspruch?

Yelin: Diese großen Widersprüche in der Figur und ihrem Verhalten sind fatalerweise vereinbar. Diese Antwort ist sehr unbequem, weil man eine Person immer als von Anfang an gut oder schlecht einordnen möchte. Das ist vielleicht exemplarisch in dem größeren Zusammenhang des Mitläufertums und der Möglichmacher: Es war für viele vereinbar, ansatzweise zu wissen bzw. wissen zu können, was an Unrecht passiert, das teilweise nicht einmal gut zu finden und trotzdem davon zu profitieren, trotzdem nichts dagegen zu tun und sich dagegen zu stellen, nicht einmal im privaten Raum. Ich habe keine Entschuldigung gefunden für das Verhalten meiner Großmutter. Ich habe trotzdem versucht, ihr Verhalten nachzuvollziehen und die kleinen Schritte nachzuzeichnen, die die großen Widersprüche ausmachen.

STANDARD: Wie sind Sie umgegangen mit der Schere zwischen Sympathie und Distanz?

Yelin: Wegen dieser Schere war es so wichtig, sie als literarische Figur zu begreifen. Natürlich hatte ich Interesse an der eigenen Familiengeschichte, aber das Buch ist an vielen Stellen eine Rekonstruktion - gar nicht eines bestimmten Falles, sondern dessen, wie es hätte sein können.

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STANDARD: Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?

Yelin: Ich habe andere Biografien und Sekundärliteratur zum Thema gelesen. Dadurch bin ich auf den Historiker Alexander Korb gestoßen, der an der Universität Leicester lehrt und unter anderem das Buch "Reaktionen der deutschen Bevölkerung auf die Novemberprogrome" geschrieben hat. Er hat mich beraten, Fakten gecheckt und mir geholfen, die Ambivalenz dieser Zeit einzufangen. Er hat auch das Nachwort verfasst. Es war für mich sehr wichtig zu zeigen, wie die Leute reagiert haben auf Situationen, in denen offensichtlich Juden misshandelt und deportiert wurden. Es gibt nur wenig Bildmaterial aus dieser Zeit, und viele Quellen entstanden aus der Sichtweise der Propaganda. Ich habe versucht, aus einer Vielzahl von kleinen Details solche Situationen zu rekonstruieren. Ob meine Großmutter selbst wirklich solche Szenen gesehen hat, ist nicht relevant.

STANDARD: Können persönliche Geschichten das Thema Holocaust besser vermitteln?

Yelin: Es kann ein Ansatz sein, der auch für Leser anschaulich ist, die keine Geschichtsbücher lesen. Ich habe ihn auch gewählt, weil man sich damit immer der Frage aussetzt: Was hätte ich getan? Indem wir durch den Blick einer Figur schauen, sehen, was sie gesehen hat, kann man erkennen, an wie vielen Stellen diese Sprachlosigkeit und das Wegschauen einsetzt. Wie eine Art Pakt, nicht über die Deportationen und die sichtbare Gewalt zu reden. Irmina ist ja auch eine sehr stolze, spröde Frau, die keine Schwächen zulässt, und der es schwerer fällt, ein Schuldeingeständnis zu machen, als Scheuklappen aufzusetzen. Das ist vielleicht ein Moment, der verallgemeinerbar ist.

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Barbara Yelin/Reprodukt Verlag

STANDARD: Warum eignet sich das Thema Holocaust so gut für den Comic? Nach dem Skandal um Art Spiegelmans "Maus" Anfang der 1990er-Jahre, das noch heftig kritisiert wurde wegen seiner Darstellungsform, ist die Nazizeit mittlerweile ein sehr gängiges Thema in Graphic Novels.

Yelin: Das ist für mich keine Wahl des Medium. Es ist das, was ich kann. Der Comic eignet sich genauso gut wie jedes andere Medium, Geschichte(n) jeder Art zu erzählen. Ich denke aber, dass es ein wesentliches Mittel des Comics ist, dass die Zeichnungen an sich und die Lücken zwischen den Panels mehr Spielraum für den Betrachter bieten, selbst zu interpretieren, nachzudenken, zu vervollständigen. Ich kann natürlich auch Bild-Zitate bringen von Fotografien und Plakaten, kann entscheiden, ob eine Fläche nicht so wichtig ist und eine andere ausgefeilter gestalten. Spiegelman schafft eine starke Identifikationsfläche, indem er Gesichter sehr reduziert, im Fall von "Maus" zu Tierköpfen. Aber generell gilt im Comic: Das Prinzip "Pünktchen Pünktchen Komma Strich" schafft mehr Identifikation als ganz ausgezeichnete Gesichter.

STANDARD: Sie selbst verfolgen keine klare Linie in den Konturen, die Bleistiftzeichnungen lassen einiges offen.

Yelin: Es geht mir dabei darum, sichtbar zu machen, dass es sich um eine Rekonstruktion handelt. Ich habe nicht den Anspruch, die Wahrheit zu simulieren. Ich gebe nur Linien vor. Da darf man auch das Nachspüren und die Versuche sehen. Man sieht Vorzeichnungen, oder dass ich radiert habe, dass ich an manchen Stellen nicht ganz fertiggezeichnet habe. Das ist für mich ein Mittel, zu zeigen, dass hier nichts schwarz auf weiß feststeht, sondern eine Erarbeitung ist.

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STANDARD: Wie haben Sie andere stilistische Mittel und die unterschiedlichen Farben eingesetzt?

Yelin: Ich habe versucht, die Entwicklung, dass sich Irmina von einer Situation der Entscheidungsfreiheit immer mehr in die Enge begibt, dass sich ihr Blickfeld immer mehr einengt, sowohl farblich also auch zeichnerisch darzustellen. Am Anfang stehen die Figuren fast vignettenhaft frei, dann bekommen sie immer mehr Rahmen und immer weniger Raum. Es wird immer grauer, die Ausschnitte werden immer kleiner. In einer Schlüsselszene, als Irmina an einer brennenden Synagoge vorbeikommt, und sich in dem Trubel über die Einkäufe Gedanken macht, zoome ich erst am Schluss hinaus, öffne den Blick und zeige, was da eigentlich passiert. So versuche ich zu verbildlichen, wie das Wegschauen funktioniert, nämlich nicht mehr das große Ganze zu sehen, sondern nur noch mit Scheuklappen durch die Welt zu gehen. Mit der Farbgebung setze ich zusätzlich Akzente, wie das Rot der Naziflaggen.

STANDARD: Ist die Geschichte ein blinder Fleck in Ihrer Familiengeschichte - wie bei so vielen?

Yelin: Für mich war die Biografie nur Grundlage für "Irmina". Ich habe auch nichts herausgefunden, was vorher keiner wusste, trotzdem habe ich den Blick hingelenkt, so wie es keiner vorher gemacht hat. Dieses Päckchen, das irgendwann geschnürt und ins Regal oder noch weiter nach unten gestellt wurde, wird immer weitergegeben und man merkt gar nicht, dass man sich immer darum herum bewegt, egal, was genau drin ist. Diese Teile der Familiengeschichte werden nicht zufällig verdrängt. Das sind Opfer- genauso wie Tätergeschichten. Deshalb finde ich es so erstaunlich, dass immer wieder gesagt wird: Das Nazi-Thema, das hatten wir schon so viel behandelt. Viele haben diese blinden Flecken. (Karin Krichmayr, derStandard.at, 3.12.2014)