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"33 Prozent aller Erziehungsberechtigten haben laut eigenen Angaben tatsächlich kein Problem damit, im Bedarfsfall mehr oder weniger fest zuzuschlagen", schreibt Michael Hufnagl.

Foto: apa/HELMUT FOHRINGER

Na bitte. Das Thema "G'sunde Watsch'n" hat nichts von seiner verstörenden Strahlkraft eingebüßt. Es tut sich wieder etwas im Staate Österreich. Das Protokoll einer modernen Diskussionsdynamik. Und ein paar persönliche Anmerkungen.

1) In der Tageszeitung "Die Presse" erscheint in der Sonntagausgabe ein Text zum Thema Kindererziehung. Titel: "Wer Strafe nicht vollzieht, wird unglaubwürdig". Der Autor publiziert an prominenter Stelle Sätze wie "Mit guten Worten und etwas Gewalt erreicht man stets mehr als nur mit guten Worten".

Und andere sonderbare Thesen, basierend auf eigenem Handeln. Es möge aber jeder selbst hier nachlesen. Ich mag gar nicht zu viel zitieren, weil das Ausschlachten des aus dem Zusammenhang Gerissenen, sei es in der persönlichen Betrachtung noch so jenseitig, oft mindestens so fragwürdig ist wie der gesamte Text selbst.

2) In rasanter Geschwindigkeit baut sich die Empörungswelle über das gruselige Verständnis von Kindererziehung und die Entrücktheit, dieses auch noch wortreich auszuschmücken, auf. Das kennen wir ja mittlerweile: Shitstorm, yeah, und alle sind dabei. In den sozialen Netzwerken geht die Post ab. Endlich ist wieder etwas los! Und gemeinsam sind wir stark.

Da kümmert es auch niemanden mehr, dass im Dienst der guten Sache (= wider die Gewalt gegen Kinder) jede Verhältnismäßigkeit verlorengeht. Es ist wie immer. Dem Ärger und der Kritik folgen – Steigerungsstufen sind das selbstgemachte Gesetz unserer Zeit – im Schutz der Anonymität und der Masse Hassorgien und Drohungen. Aus dem Ohrenzieher wird ruckzuck ein gnadenloser Schlägertyp. Radikale Offensive mit sprachlicher Gewalt – in diesem speziellen Fall eine besondere Perfidie.

3) Armin Wolf schreibt nur knapp fünf Stunden später auf seiner Facebook-Seite einen sehr persönlichen Text, erzählt, wie er als Kind geschlagen wurde und welche Verachtung er für diesen damals absolut gesellschaftsfähigen Erziehungsstil (und daher für den "Presse"-Artikel) empfindet. Mittlerweile hat er seinen Eltern längst verziehen. Seine Statusmeldung wurde bis heute fast 25.000-mal gelikt und fast 4.000-mal geteilt.

Rund 1.800 Kommentare finden sich unter dem Text, aber keineswegs nur wohlmeinende. Einerlei. Wolf wird zum Multiplikator. Spätestens jetzt ist die Geschichte nicht mehr einzufangen. Das Feuer entfacht. Die Diskussion im Zenit der Emotionalität. Kindererziehung, ja, da haben doch alle eine Meinung. Auch zahlreiche Organisationen melden sich zu Wort, das 21. Pädagogik-Jahrhundert wird im nationalen Chor beschworen.

4) Der Druck wächst und wächst, die Anklage wird laut und lauter, der Zorn der Menschen zwingt "Die Presse" zur Reaktion. Vor zehn Jahren noch wäre das undenkbar gewesen. Es hätte Tage gedauert, ehe der eine oder andere Leserbrief (auch via Mail) die Redaktion erreicht hätte, um dort (gerne auch ungelesen) im Papierkorb zu enden. Das Aussitzen wäre gar kein Thema gewesen, weil es das Bewusstsein, dass ein solches vonnöten sei, gar nicht gegeben hätte. Die Zeitung von gestern? Pfff!

Heute ist das ganz anders. Vom Erscheinen der Strafvollzugsstory bis zur öffentlichen Distanzierung durch die "Presse"-Chefredaktion dauert es nur 16 Stunden. Ja, es kommt tatsächlich zu folgender Stellungnahme. Zu retten ist freilich nichts mehr. Hier geht es nur mehr um die Prüfung eines modernen Gewissens, das Eingeständnis des offensichtlichen Fehlers und die Wahrung einer politisch korrekten Geisteshaltung, sprich Blattlinie. Das erscheint selbstverständlich, ist es aber gar nicht. Das kann man durchaus respektieren. Über die hinzugefügten Worte des Autors hätten alle Verantwortlichen freilich noch ein wenig länger nachdenken dürfen. Andererseits ist es zum aktuellen Zeitpunkt ohnehin kaum möglich, noch etwas richtig zu machen.

5) Das wahrlich Traurige geht im Zuge der Autorenjagd jedenfalls ganz sicher verloren. Die Verlogenheit dieser Gesellschaft. Erst unlängst erschien jene Studie, die mindestens so sehr Anlass für öffentliche Erregung sein müsste. Aber da gab es eben kein namentliches Bekenntnis, sondern nur eine statistische Erhebung. Ein Drittel der Österreicher ist nämlich der Meinung, dass die g'sunde Watsch'n allenfalls sehr wohl ein probates und auch notwendiges Mittel zur rechtschaffenen Sozialisierung unserer Kinder wäre. Wider jede fortschrittliche, psychologische Erkenntnis.

33 Prozent aller Erziehungsberechtigten haben laut eigener Angaben tatsächlich kein Problem damit, im Bedarfsfall mehr oder weniger fest zuzuschlagen. Und da sind jene, die es tun, das aber niemals laut zugeben würden, gar nicht mit eingerechnet. Und jene, die jetzt laut "Skandal" schreien und denen möglicherweise auch gelegentlich ein bisserl die Hand ausrutscht (eh nur ein kleiner Klaps), erst recht nicht. Na dann, auf zum fröhlichen Dunkelzifferschätzen.

6) Ich kann leicht schreiben. Ich wurde niemals geschlagen. Ich kenne dieses Gefühl von Ohnmacht, Schmerz und Angst, das mir von den Geklapsten, den Gewatschten und den Geprügelten so oft beschrieben wurde, nicht. Gar nicht. Ich empfand es schon als Höchststrafe, wenn meine Eltern einen Tag lang die Kommunikation verweigerten. Das Schweigen war mir eine Folter, das erste an mich gerichtete Wort danach eine Erlösung. So eine Kinderseele ist ja viel fragiler, als man oft glaubt. Oder glauben will.

Gewalt hat so verdammt viele Gesichter. Mich bedrücken die Erzählungen, denen ich oft folgen muss. Und ich bin unendlich dankbar, dass ich mich ein Leben lang nicht vor Hieben und Demütigungen fürchten musste. Es ist merkwürdig, aber ich habe allen Ernstes oft das Gefühl, ich müsste mich für dieses Glück beinahe rechtfertigen.

7) Umso selbstverständlicher erscheint es mir, es als Vater ebenso zu tun. Beziehungsweise es nicht zu tun, schlagen nämlich. Und umso mehr Respekt habe ich vor jenen, die einst selbst gedroschen wurden und die heute genau dieses Gewaltmuster durchbrechen und von jeder Form der Züchtigung absehen. Und selbstverständlich ist das eine Herausforderung.

Selbstverständlich gibt es diese Augenblicke, wo der Satz "Ich könnte dich an die Wand kleben" wie ein Neuronengeschwader über uns Eltern kommt. Wo das am Boden hockende, brüllende Trotzkind die eigene Persönlichkeit in ungeahnte Gegenwehr-Dimensionen zu wuchten droht. Denn selbstverständlich sind auch Mütter und Väter nur Menschen aus Fleisch und Blut, mit Schwächen und Aussetzern, mit Fehlern und Emotionen und mit dem Recht auf Wut und Hilflosigkeit.

Aber es muss zweifellos immerzu das Ziel sein, genau das, diese Unmöglichkeit immerwährender Balance, Gelassenheit und Gerechtigkeit, einem Kind verständlich zu machen. Mit Gesten, Mimik und Worten. Die dürfen ruhig auch hin und wieder laut ausfallen. Wir sind keine Heiligen. Aber es geht doch bitte darum, mit aller Kraft seine Gefühle zu vermitteln. Im schlechtesten Fall seine Traurigkeit, seine Verzweiflung, seinen Zorn. Nicht nur Kindern, sondern allen Menschen gegenüber. Grundsätzlich.

Um Dialog und Lösungen bemüht. Das ist gar nicht sozialromantisch oder naiv, wie Zyniker mit Vorliebe an dieser Stelle einwerfen. Das nennen wir Verstand. Oder auch nur: Leben. Das Kinder von uns Erwachsenen lernen. Welchen Wert soll da ein Schlag haben? Oder ein Ohrenziehen als Ultima Ratio?

8) "Aber ehrlich, es hat mir nicht geschadet." Wie oft habe ich das gehört. Unabhängig von der äußerst schwierigen Messbarkeit von Schäden mag dieser Satz vielleicht als Elternschutz- und damit auch Selbstschutz-Strategie verständlich erscheinen. Aber er kann sicher niemals als Rechtfertigung für neuerliche Gewalt gegen Kinder dienen. Die Watsch'n, die ihren Zweck erfüllt, die Flak, die einmal höchst an der Zeit war, die Tätsch'n, für die man eigentlich dankbar sein müsste – was für ein Unsinn.

Aber möglicherweise immer noch mit dem Zeug zum mehrheitsfähigen Gedanken. Zumindest bekommt der "Presse"-Autor auch viel Applaus für seinen "Mut, die Dinge beim Namen zu nennen". Für mich bleibt stets nur ein Reflex: Es ist feig, die Hand zu erheben, unfair, ein einseitiger Missbrauch von Macht. Ausnahmslos. Und daran kann kein autoritäres "Früher einmal ..." etwas ändern.

9) Was zählt, ist gegenseitiger Respekt. Und den können und wollen auch Kinder lernen. Eltern müssen sich nur die Zeit, die vor allem, und die Lust nehmen, zu hören und zu spüren. Ohne Reibung wird’s deshalb trotz aller Intuition, Empathie und vor allem Liebe nicht abgehen. Ich sage nur Pubertät. Partytime – lasst die Fetzen fliegen!

Aber dass Grenzziehung nur mit Hau-Hilfe oder überhaupt einer ordentlichen Tracht Prügel möglich sein soll statt mit konsequenter Auseinandersetzung auf Augenhöhe, das sollte als Konzept endlich in der untersten Schublade auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

10) Unlängst habe ich zu meiner Tochter nach einer ihrer typischen Frechheiten scherzhalber gesagt: "Nur damit du es weißt, du bist nie zu alt für deine erste Watsch'n." Da hat sie herzlich gelacht. Und ich habe mitgelacht. Aber in Wahrheit ist das gar nicht lustig. (Michael Hufnagl, derStandard.at, 2.12.2014)