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Syrische Kriegsflüchtlinge in Athen: Ohne Schlepper hätten sie es nicht nach Europa geschafft. Nun warten sie auf eine Entscheidung in ihrem Asylverfahren. Der Staat verfolgt indes ihre Fluchthelfer.

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Derzeit stehen am Landesgericht Wiener Neustadt acht Männer wegen Schlepperei vor Gericht. Die Urteile sollen am 4. Dezember verkündet werden. Es drohen bis zu zehn Jahre Haft.

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In einem umgebauten Cadillac brachte Fluchthelfer Burkhart Veigel Menschen aus der DDR in den Westen.

Foto: Burkhart Veigel

Es waren zwei junge, durchtrainierte Männer, die Rahman den Weg durch die kalte, klare Nacht übers Hochgebirge wiesen. Die Männer liefen vorn her, die Gruppe versuchte, Schritt zu halten, kämpfte sich mit Flipflops übers Geröll. Schneidender Wind ließ Rahmans Baumwollhosen flattern, er hatte Angst. Erst 15 Jahre alt, ohne Eltern in der Obhut der fremden Männer, deren Sprache er nicht verstand, das Gebell der Polizeihunde der türkischen Grenzbeamten in der Ferne. Den Hunden zu entkommen - allein hätte er das nicht geschafft, sagt Rahman heute, er ist den Männern dankbar.

Der 18-jährige Afghane sitzt in der warmen Küche seiner Wohngemeinschaft in Wien und blättert in der Gratiszeitung. Fragt man ihn nach den "brutalen Schlepperbanden", über die hier oft berichtet wird, zuckt er mit den Schultern: Er habe auf seiner zwei Monate langen Flucht zwar einige Schleuser kennengelernt. Brutal sei niemand gewesen, "aber auch nicht besonders freundlich". Eher nüchtern, ergebnisorientiert: Du zahlst, ich leiste - hoher Preis für hohes Risiko.

Prozess in Wiener Neustadt

Szenenwechsel. Am Wiener Neustädter Landesgericht spielt die Richterin die Aufzeichnung eines Telefongesprächs vor. Zwei Pakistanis unterhalten sich angeregt. Laut Staatsanwältin bereiten sie eine Schleppung vor, die Männer selbst sagen, sie hätten nur einem Bekannten geholfen, von Ungarn nach Wien zu kommen. Angeklagt sind acht Männer, ihnen drohen bis zu zehn Jahre Haft. Wenn nächste Woche das Urteil in diesem zähen Strafprozess verkündet wird, werden Kamerateams und Gerichtsreporter vor Ort sein. Hätte die Anklage nicht auch Akteure einer vielbeachteten Flüchtlings-Protestbewegung betroffen, würde sich wohl niemand dafür interessieren.

Strafverfahren wegen Schlepperei sind keine Seltenheit. Immer wieder berichtet die Polizei über erfolgreiche Schläge gegen die "Schleppermafia". Begriffe wie dieser sollen suggerieren, dass es sich um kriminelle Netzwerke handelt, die derart mächtig sind, dass Staaten ihnen hilflos gegenüberstehen. Man zeichnet das Bild finsterer Gestalten, die durchwegs kaltblütig und ausbeuterisch agieren. Wer sie bekämpfe, helfe den Schwachen.

Das passt so gar nicht zu jenem Foto, auf dem ein lächelnder Burkhart Veigel den Applaus auf der Bühne des Berliner Bundeskanzleramtes genießt, wo er über "geheime Wege von Ost nach West" referiert hat. Der 76-Jährige war ein DDR-Fluchthelfer. Im umgebauten Handschuhfach eines Cadillacs transportierte er Flüchtlinge in den Westen, mindestens 600 Menschen soll er geholfen haben. Heute wird er deswegen verehrt. Wäre Veigel jedoch ein junger Mann der Gegenwart, der syrischen Flüchtlingen hilft, nach Deutschland zu gelangen, würde ihn dieselbe Bundesrepublik, die ihn mit Orden dekoriert, vor ein Strafgericht bringen. Was damals Fluchthilfe war, ist heute kriminelle Schlepperei.

Zäune unterscheiden nicht

Kritiker meinen, man dürfe dies nicht vergleichen. Damals seien DDR-Flüchtlinge von Grenzposten erschossen worden, die Mauer war unüberwindbar. Heute hingegen würde doch jeder Asylantrag in der EU geprüft und auf Basis der Gesetze entschieden, heißt es oft. Doch das stimmt schon lange nicht mehr. Europa setzt alles daran, damit Flüchtlinge erst gar nicht in die Lage kommen, einen Asylantrag zu stellen - es hält sie davon ab, ihren Fuß auf europäisches Territorium zu setzen. Stacheldrahtzäune unterscheiden nicht, ob jemand einen Job in einer europäischen Metropole sucht - oder Schutz vor Folter.

Die Mauern Europas werden höher, doch weiterhin versuchen viele, sie zu überwinden. Sie kratzen das Ersparte ihrer Familien zusammen, um Agenten zu beauftragen, die wissen, bei welcher Wetterlage das Boot ablegen muss, welche Route man einschlagen muss, um von der Türkei Richtung Bulgarien zu kommen. Ein kleiner Teil dieser Flüchtlinge schafft es über die EU-Außengrenze. Es ist dieser kleine Teil, der europäische Medien dann von "Flüchtlingswellen" sprechen lässt.

Ob Menschenschleuser Helden oder per se Kriminelle sind, war schon immer eine Frage der Perspektive. Der Bergbauernsohn Meinrad Juen, ein kleinwüchsiger junger Mann mit Schnauzbart und Witz im Blick, war ein geschickter Alpinist, der aus Muskelkraft und Bauernschläue Geld schlug, indem er Kaffee, Zigarren, Tabak über die schweizerisch-österreichische Grenze schmuggelte.

Waren und Menschen

Als die Schweiz im Sommer 1938 ihre Grenze zu Österreich schloss, änderte er sein Geschäftsmodell. Er schmuggelte nicht nur Waren, sondern auch Menschen über die Berge. "Judenschlepper", so nannte man Menschen wie ihn. Mindestens 42 Geflüchteten rettete Juen das Leben, indem er sie nachts übers Hochgebirge führte. Mucksmäuschenstill mussten die Geflüchteten sein, um nicht entdeckt und verhaftet zu werden. Löste sich ein Stein, so bimmelte Juen mit einer Schelle, die er immer bei sich trug: Die Grenzpolizisten sollten den Flüchtlingstross für eine Ziegenherde halten.

Juen war kein Idealist, sondern Geschäftsmann, die Flüchtlinge seine Kunden. Trotzdem wird er heute verehrt. "Vielen Einheimischen ist er als Held in Erinnerung", erzählt die Kulturwissenschafterin Edith Hessenberger, die Juens Geschichte anhand von Zeitzeugenberichten erforscht hat. Zu Lebzeiten hätten die Dorfbewohner im Vorarlberger Montafon Abstand zu ihm gehalten. Einerseits, weil sie wussten, dass er ein Krimineller war, andererseits auch aus Neid, "weil er sich eine goldene Nase verdient hat", sagt Hessenberger.

Am Ende sogar Trinkgeld

Zweifellos gibt es brutale Schleuser, die ihre Macht ausnützen, die Geschleppte quälen und ausbeuten. Doch gibt es auch andere, die Bekannten helfen - oder Geschäftsleute, die darauf bedacht sind, ihren unternehmerischen Ruf nicht zu verlieren. "Manche Flüchtlinge erzählen, dass sie ihren Schleusern am Ende sogar Trinkgeld gegeben haben", sagt Andreas Schloenhardt. Der Jurist ist kein linker Flüchtlingsaktivist, sondern Professor für Strafrecht an der University of Queensland. Er erforscht, wie sich der staatliche Umgang mit Schleppern verändert hat: ein faszinierender Mythenwandel.

Die Heldenfigur des DDR-Fluchthelfers diente dem Westen als wichtige Stütze seiner Identität. Der Westen als Paradies, in das die Menschen fliehen, um der Tyrannei des Ostens zu entkommen - diese Geschichte musste immer und immer wieder erzählt werden, um die Macht des Westens auch in den Köpfen stärken. Mit dem Zerfall des Ostblocks waren solche Mythen plötzlich obsolet, meinen Experten. Europa findet sich nicht im geopolitischen Wettstreit mit Syrien, Irak, Afghanistan oder Tschetschenien.

Manche meinen, diese Konflikte würden verdrängt, da sie die außenpolitische Ohnmacht der Europäischen Union unterstreichen. Verdrängt werden auch jene Massen an Menschen, die es geschafft haben, der Hölle des Krieges zu entrinnen. Jene Menschen, die ihnen dabei helfen, ins Gefängnis zu stecken, ist Teil dieser Verdrängung.

Österreich stark betroffen

Der Fall des Eisernen Vorhangs brachte auch ganz reale Veränderungen: Die Migration aus dem Osten nahm rasant zu. Zuvor hatten die sozialistischen Staaten auch einen Puffer gegenüber Migrationsbewegungen aus dem Osten gebildet, diese Abschirmfunktion brach nun weg. Als exponiertes Land war Österreich besonders stark betroffen. Nur Monate nach der Ostöffnung beschloss der österreichische Nationalrat das erste Anti-Schlepper-Gesetz.

Es war auch Österreich, das sich international für einen Kampf gegen Schlepper einsetzte. Der damalige ÖVP-Außenminister Wolfgang Schüssel legte einen Vorschlag für eine Übereinkunft der Vereinten Nationen gegen Menschenschmuggel vor, die dann auch beschlossen wurde. Menschenrechtler drängten jedoch erfolgreich darauf, Schüssels Entwurf um einen Satz zu ergänzen: Man dürfe nicht vergessen, beim Kampf gegen Schlepper auch die Geschleppten zu schützen.

Denn das Schmuggeln von Menschen sei nicht auf eine Stufe zu stellen mit dem Schmuggel von Drogen. Zudem wurde festgehalten, dass Menschen, die anderen aus humanitären Gründen über die Grenze halfen, straffrei bleiben sollten.

Strafen für kleine Fische

Die heutige Realität sieht anders aus. Die EU verpflichtet ihre Mitgliedsstaaten zwar, gegen Schlepper vorzugehen, stellt ihnen aber frei, ob sie bei humanitärer Fluchthilfe von Strafen absieht. Auch in Österreich wird nicht unterschieden, ob man eine Tante oder einen Freund ins Land holt oder einen Kunden. Bestraft, so Schloenhardt, werden meistens die kleinen Fische. "Die Fälle, wo viele Leute um teures Geld geschleppt werden, landen äußerst selten vor Gericht."

Gleichzeitig arbeitet die Union beständig daran, ihre Grenzen zu befestigen. Doch je dichter die Grenzzäune, umso bedeutender wird die Rolle der Schleuser, die wissen, wo sich die wenigen Schlupflöcher befinden, und umso höher ihr Preis. Überspitzt könnte man sagen, die Union subventioniere jene Schlepperindustrie, deren Bekämpfung sie sich auf die Fahnen schreibt. Während hohe Strafen für Schlepper deren Geschäft nicht trübt, wird an den Grenzen Europas jeden Tag Menschenrecht verletzt. Das Problem der globalen Migration lässt sich auch durch hohe Strafen für Schlepper nicht lösen.

Dass der Assistenzeinsatz des Bundesheeres im Burgenland pro dabei aufgegriffenen Einwanderer 1,4 Millionen Euro verschlang - Schlepper wurden dabei übrigens nicht erwischt -, sorgte vor ein paar Jahren für ungläubiges Staunen. Doch er war symptomatisch: Die Politik, so meint auch Strafrechtler Schloenhardt, sehe im harten Vorgehen gegen Schlepper ein billiges Mittel, um zu sagen: "Seht her, wir tun etwas." (Maria Sterkl, DER STANDARD, 29.11.2014)