STANDARD: Ich möchte mit einer ungewöhnlichen Frage beginnen: Warum sitzen wir hier? Sie haben ja die Redaktion um einen Termin gebeten.
Chlorhuhn: Es ist an der Zeit, mit den Mythen aufzuräumen. Darum bin ich hier! Ich komme aus Georgia, wo ich bis vor wenigen Tagen in einer Halle gelebt habe. In den vergangenen Monaten haben uns ein paar aus Europa eingeflogene Zuchthennen - mit ein paar meine ich ein paar hundert - erzählt, wie die Debatte über Chlorhühner dort läuft. Das ist federsträubend, was da alles behauptet wird. Wir haben also entschieden: Wir unternehmen etwas, bringen die Botschaft nach Europa. Ich bin von den übrigen Hennen deshalb als Vertreterin gewählt worden, um nach Europa zu reisen und die Menschen aufzuklären. Das Votum war übrigens einstimmig: 32.000:0.
STANDARD: Die Farmer haben Sie rausgelassen?
Chlorhuhn: Ich habe einen Anstecker mit unserer Fahne an meine Brust geheftet, "God bless America" gerufen und versprochen: Den Weicheiern in Europa werde ich die Angst austreiben. Das hat gewirkt. Meine Probleme begannen am Flughafen: Ich wurde vom Heimatschutzministerium verhaftet.
STANDARD: Die hatten wohl Angst: Wenn Sie in Europa auspacken, gefährden Sie die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen TTIP.
Chlorhuhn: Quatsch. Ich bin in einer Warteschlange durchgedreht. Sehen Sie: Ich wusste bis vor kurzem nicht, dass es so etwas wie Tageslicht gibt. Seit meiner Geburt lebe ich unter künstlich gedämpftem Neonlicht in einer Halle ohne Fenster. Das Licht soll uns dazu animieren, ständig zu fressen. Gleichzeitig sollen wir auch dumpf gemacht werden, damit wir bei dieser Überbelegung nicht die Nerven verlieren und aggressiv werden.
STANDARD: Überbelegung?
Chlorhuhn: Wir haben zu Hause im Schnitt nicht einmal 400 Quadratzentimeter Platz. Ein Blatt Papier ist größer. Bei euch in Österreich sind es fast um die Hälfte mehr. Wenn jemand bei uns in Georgia im falschen Moment tagträumt: Bum, stehen bei dir gleich drei andere am Kopf drauf.
STANDARD: Klingt unschön.
Chlorhuhn: Kommt noch schlimmer. Als Folge der Überbelegung ist die Luft bei uns ekelhaft. Aus unserem ganzen Kot bildet sich Ammoniak, weshalb die Luft stechend, verpestet riecht. Jedenfalls kommst du dann raus: Sonne. Luft. Platz. Aber im Flughafen kamen wieder die alten Bilder hoch. Wissen Sie, gar nicht so einfach, plötzlich aus der Gefangenschaft heraus frei zu sein! Dabei habe ich vor meiner Verhaftung noch mit meinem Attest herumgewedelt.
STANDARD: Mit welchem Attest?
Chlorhuhn: Ich leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die ich mir pränatal zugezogen habe. Mein Vater und meine Mutter waren Zuchttiere. Ihr Lebenszweck: Befruchten und befruchtet werden. Irgendwann plumpste ich als Ei raus. Ich wurde sofort weggeschafft - meine Eltern habe ich nie kennengelernt - und mit tausenden Kollegen in eine Brüterei gesteckt. Dort war es zwar schön warm. Aber jeder wusste: Es bleiben uns 21 Tage, um zu schlüpfen. Wer ein paar Minuten zu spät dran ist: Pech, ab in den Mist!
STANDARD: Hatten Sie danach Zeit, um durchzuatmen?
Chlorhuhn: Nein. Wir wurden mit Medikamenten gegen Erkrankungen besprüht, dann wurden Männer und Frauen getrennt. Es hieß: Wo die Gockel hingehen, von dort kommt keiner zurück. Ich landete in einem Großbetrieb und zog mir eine Essstörung zu.
STANDARD: Wie hat sich das geäußert?
Chlorhuhn: Ich bin genetisch eine Fress- und Zulegmaschine. Ich soll in sieben Wochen mein Schlachtgewicht erreichen, also muss es schnell gehen. Sprich: Sobald ich esse, werde ich fetter und fetter. Die von der Hilfsorganisation Vier Pfoten haben errechnet: Wenn ein Mensch so rasch zulegen würde wie ich, kämen zweijährige Kinder auf ein Durchschnittsgewicht von 150 Kilo.
STANDARD: Jetzt sehen Sie aber gut aus.
Chlorhuhn: Danke. Ich kämpfe aber noch. Ich bin von klein auf an Antibiotika gewöhnt. Das mag komisch klingen: Aber ohne schmeckt mein Futter nicht richtig. Ich esse derzeit also zu wenig.
STANDARD: Sie haben gesagt, Sie kommen mit einer klaren Botschaft nach Europa. Wie lautet die?
Chlorhuhn: Das Chlor ist unser kleinstes Problem. Wir werden unter derart miserablen Bedingungen gehalten, dass es ein wahres Paradies für Keime aller Art ist. Ekelhaft. Um es drastisch zu sagen: Ohne das reinigende Chlorbad, in das wir nach der Schlachtung getaucht werden, würde ich mich selbst nicht essen wollen. Daher: Es muss sich was ändern. Wir brauchen mehr Platz, frische Luft, artgerechte Haltung.
STANDARD: Haben Sie in Österreich auch noch andere Medien kontaktiert?
Chlorhuhn: Ja. Als Erstes habe ich es bei der Krone probiert: Die hatten diese Anti-Chlorhuhn-Kampagne. Auch wenn die unsinnig ist, schienen sie sich für das Thema zu interessieren. Das Gespräch ist dann leider nicht zustande gekommen.
STANDARD: Die Kronen Zeitung wollte nicht?
Chlorhuhn: Es gab Verständigungsschwierigkeiten. Keiner in der Redaktion sprach Englisch. Erfolgreicher war ich mit den Politikern. Euer Kanzler und Vizekanzler: super Typen. Wollen einen Arbeitskreis zum Thema einrichten. Merkwürdig war dieser Strache. Chlor war im egal. Stattdessen fragte er nur nach Zuchtverfahren in Amerika, brabbelte dauernd etwa von Edelrassen daher. Dieser andere, Strolz von den Neos, war nett. Hat mir lange zugehört, mich dann umarmt und mir empfohlen, mich unter einen Kastanienbaum zu setzen. Am besten war die Eva.
STANDARD: Sie meinen Eva Glawischnig.
Chlorhuhn: Sie bot mir einen Platz im Grünen-Parteivorstand inklusive Sitz im Parlament an. Ich wäre ein Magnet für Vegetarier, sagte sie.
STANDARD: Werden Sie annehmen, was haben Sie vor?
Chlorhuhn: Zuerst muss ich zu mir finden, alles verarbeiten. Mein Leben hat ja eine neue Perspektive: Anstatt nach sieben Wochen geschlachtet zu werden, habe ich nun eine Lebenserwartung von 15 Jahren. Vielleicht schreibe ich ein Buch. (András Szigetvari, DER STANDARD/Portfolio, 2014)