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Ein Experiment in Tschernobyl führte zum Super-GAU, ein Unglück, das über den größten anzunehmenden Unfall noch hinausging.

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Sonja Schmid erhielt den Ascina-Award für ihr Tschernobyl-Buch.

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STANDARD: Welche Erinnerungen haben Sie an die Tschernobyl-Katastrophe im Jahr 1986?

Schmid: Ich kann mich an die Aufrufe erinnern, die Fenster zu schließen. Ob das zu jenem Zeitpunkt war, als die Wolke über Österreich zog, oder ein paar Tage später, weiß ich natürlich nicht mehr. Es ging jedenfalls darum, dass etwas in der Luft war, was man nicht sehen und riechen konnte, was aber dennoch sehr gefährlich war. Mein Vater ist Ingenieur. Er hat sich große Sorgen gemacht und mit uns darüber gesprochen.

STANDARD: Sie sind nun Wissenschafts- und Technikforscherin. Hat Sie das Ereignis bei Ihrer Berufswahl beeinflusst?

Schmid: Ich habe schon als Kind, ob ich wollte oder nicht, mitbekommen, welche Gefahren es durch Kernenergie gibt. Mein Vater war schon bei Röntgenaufnahmen beim Zahnarzt alarmiert und meinte, dass es da zu Ablagerungen in den Knochen kommen könnte. Ich habe dann Slawistik studiert, was damals sehr akademisch war. Immerhin gab es einen Kurs für Hörer aller Fakultäten, der sich mit nuklearer Sicherheit beschäftigte. Das brachte mich zur Technikforschung. Mich interessieren nämlich Hintergründe. Deswegen wäre auch der Umweltaktivismus keine Alternative für mich gewesen. Er ist zwar wichtig und gut, lässt aber in seiner Anti-Atom-Haltung zu viele Graustufen zwischen einem "Nein" und einem "Ja" zur Atomkraft aus.

STANDARD: Welche Graustufen meinen Sie?

Schmid: Es gibt so viele Fragen, die man nicht eindeutig beantworten kann. Dafür hassen mich die Befürworter genauso wie die Gegner. Beide wollen nämlich eindeutige Antworten. Die Auswirkungen von radioaktivem Fallout auf die Gesundheit sind leider viel weniger greifbar, als man annimmt. Es gibt eine Grundwahrscheinlichkeit für Krebserkrankungen. Wenn man die Strahlung in die Berechnungen mit einbezieht, erhöht sich diese Wahrscheinlichkeit zwar, aber es lässt sich für den Einzelnen nur schwer feststellen, woher die Krebserkrankung kommt. Hat er Lungenkrebs vom Rauchen oder deshalb, weil er in Tschernobyl gearbeitet hat?

STANDARD: Aber es gab doch Tote nach dem Unfall.

Schmid: Natürlich. Gleich nach dem Reaktorunfall starben Arbeiter aufgrund akuter Strahlenüberdosis. Ansonsten konnte aber nur eine Erkrankung direkt mit dem radioaktiven Fallout in Verbindung gebracht werden: Schilddrüsenkrebs bei Kindern, ein relativ leicht zu behandelndes Karzinom. Das kann man operieren, sagen diejenigen, die die Katastrophe kleinreden wollen. Ich hasse es zwar, das zu sagen. Aber sie haben recht. Das heißt nicht, dass das damals unbedenklich war. Mehr als die Hälfte der 1986 evakuierten Menschen - das waren 135.000 - sind verlorengegangen. Wir wissen nicht, ob sie gesundheitliche Folgen haben.

STANDARD: Man hat ja relativ spät mit der Evakuierung begonnen. Wurden nach der Katastrophe also Fehler begangen?

Schmid: Die Evakuierung hat gedauert, weil die Experten ihren Augen nicht trauten. Der Unfall war jenseits ihrer Vorstellungskraft. Als man sich endlich entschloss, die Leute aus der Region zu bringen, ging es aber recht zügig. Mit einer Effizienz, die in einem demokratischen Land vermutlich nicht umsetzbar ist. Wenn man beginnt, darüber nachzudenken, kommt man in moralische Dilemmas. Bedenken Sie, welches Chaos in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina herrschte. Da konnte man nicht verordnen, was zu passieren hat.

STANDARD: Ihre nächste Arbeit, mit 400.000 Dollar von der National Science Foundation (NSF) auf fünf Jahre finanziert, wird sich mit dem Management von nuklearen Katastrophen beschäftigen. Was hat sich da in den Jahren seit Tschernobyl getan? Ist das Management von Katastrophen professioneller geworden?

Schmid: Was mich an der Medienberichterstattung über Tschernobyl immer geärgert hat: Der Unfall wurde immer so dargestellt, als könnte das hier nie passieren - hier in Westeuropa, hier in den USA. Das sei in der Sowjetunion gewesen, in einem ohnehin korrupten System, und technisch sei man damals schlecht ausgerüstet gewesen. Das stimmt natürlich so nicht. Ich habe in meiner Archivarbeit und mit Interviews belegt, dass diese Sichtweise falsch ist. Seit der Katastrophe in Fukushima 2011 kann man so nicht mehr reden. Die Japaner waren auf dem neuesten Stand der Technik.

STANDARD: Waren die Japaner schneller bei der Evakuierung?

Schmid: Hier waren die Evakuierungsmaßnahmen sehr effektiv, sogar vorbeugend. Das war auch gut so, denn die Japaner haben die Russen, die die Expertise gehabt hätten, nicht ins Land gelassen, und die Internationale Atomenergiebehörde IAEA saß auf ihren Händen und versagte auf der ganzen Linie. Fukushima hat immerhin einiges bewirkt: In Europa wurden zum Beispiel Stresstests durchgeführt.

STANDARD: Gibt es im Katastrophenfall eigentlich bestimmte Standards, die in allen Ländern beachtet werden? Werden Sie das in der neuen Arbeit analysieren?

Schmid: Ich werde mir Deutschland, die USA, Russland und wahrscheinlich auch Frankreich anschauen. Die Organisation im Katastrophenfall ist, soweit ich das schon beurteilen kann, sehr unterschiedlich. In der Sowjetunion wurde eine nukleare Sicherheitseinheit nach dem Unfall in Tschernobyl gegründet, die zwei Jahre später aus finanziellen Gründen wieder aufgelassen wurde. Im heutigen Russland ist das Ministerium für außerordentliche Situationen zuständig. In den USA gibt es seit 9/11 ein Department für Homeland Security, das für Katastrophen die Federal Emergency Management Agency hat. Beim Hurrikan Katrina Ende 2005 hat diese Agentur kläglich versagt, aber sie scheinen sich nun gut zu entwickeln. Entscheidend wird die Frage sein: Was machen die Kraftwerkbetreiber im Katastrophenfall, wen rufen die an? Gibt es da in der Region genügend Ausstattung? Ich werde aber nicht nur Organisationsanalysen durchführen, sondern wieder mit Interviews und Archivrecherche arbeiten. Das ist zwar oft wie eine Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen, aber ich betrachte auch gern den Heuhaufen - und erkenne, in welchem Kontext es zu Entwicklungen kommt.

STANDARD: Wird es eine Anleitung geben, wie man mit Katastrophen umgehen sollte?

Schmid: Nein, ich werde nur aufzeigen, wie verschieden die Zugänge sind, sie aber nicht bewerten. In einem Teil der Arbeit soll es aber schon eine Art Verhaltenskatalog geben. Es muss klar sein: Im Katastrophenfall wird viel improvisiert, das aber braucht eine breite Basis. Und die muss geübt werden. Ich leite einen Kurs über Risikoabschätzung. Da frage ich die Studierenden immer wieder: Wisst ihr, was zu tun ist, wenn es Feueralarm gibt? Sie schauen mich dann mit großen Augen an. Seien wir uns ehrlich: Wenn wir auf der Straße gehen und sehen, dass acht von zehn Menschen ihren Blick auf ihr Handy richten, müssen wir uns da nicht fragen: Was machen alle diese Leute, wenn in ihrer Umgebung eine Katastrophe passiert? Wir leben in einer komplexen und deswegen auch nicht ungefährlichen Welt. (Peter Illetschko, DER STANDARD, 26.11.2014)