Von den dramatischen Ereignissen in der Ukraine und im Nahen Osten überschattet, bahnt sich in Großbritannien eine politische Wende an. In diesen Tagen diskutiert man in den britischen Medien und den politischen Salons in London nur über ein Thema: die überraschende Siegesserie der bis vor kurzem noch belächelten populistischen Gruppe Ukip (United Kingdom Independence Party) bei zwei durch den Übertritt von zwei konservativen Abgeordneten von den Tories zur Ukip erzwungenen Nachwahlen. Trotz des totalen Einsatzes des konservativen Parteiapparates - Premier David Cameron absolvierte fünf Auftritte im Wahlkreis Rochester - gewann der Ukip-Kandidat mit sieben Prozent Vorsprung vor dem konservativen Rivalen.

Es waren aber außer der Niederlage der Tories zwei weitere Überraschungen, die eine Flut von Kommentaren ausgelöst haben. Die Labour-Partei erlitt eine vernichtende Niederlage mit dem Fall ihres Stimmenanteils von 29 Prozent auf 16 Prozent und landete abgeschlagen am dritten Platz. Die Liberal-Demokraten, seit 2010 Koalitionspartner der Tories, wurden sogar von den Grünen überholt und bekamen bloß ein Prozent der Stimmen. In der Ukip habe "die Tradition der Arbeiterklasse eine neue Heimat gefunden", behauptete Mark Reckless, ihr neuer Abgeordneter.

Ukip-Chef Nigel Farage brüstete sich mit der günstigen Ausgangslage für die Ukip-Kandidaten in zahlreichen Wahlkreisen: bei den Unterhauswahlen im Mai 2015 sei alles möglich. Die jüngsten Umfragen sagen für die Ukip 19 Prozent, für Labour 33 Prozent, für die Tories 30 Prozent und die Liberal-Demokraten sieben Prozent voraus, und 44 Prozent der Wähler wollen im Mai nicht mehr jener Partei ihre Stimme geben, die sie noch 2010 gewählt hatten. Es handelt sich um eine tiefgreifende Vertrauenskrise, um eine Abkehr von einer selbstherrlichen Elite, um mehr als um einen Protest gegen die Einwanderungs- und Europapolitik.

Nigel Farage mit seiner Ukip-Partei wird mit Sicherheit nicht der nächste Regierungschef Großbritanniens sein, aber sein Wort, möglicherweise im Namen von 20 bis 30 Abgeordneten, könnte bei der Bildung einer Koalitionsregierung mitentscheidend sein. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob Cameron aus der Niederlage in Rochester gelernt hat und statt der bisherigen europa- und ausländerfeindlichen Untertöne mit konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen die Demagogie der Ukip-Populisten bloßstellen will. Von der Labour-Partei, deren Vorsitzenden sich nur 13 Prozent der Wähler als Premierminister vorstellen können, hat er jedenfalls kaum etwas zu befürchten.

Angesichts der Stärke der Ukip, der Schottischen Nationalisten (SNS), der Liberal-Demokraten sowie der 18 unabhängigen nordirischen und der mindestens drei Waliser Abgeordneten rechnet der Leiter des Umfrageinstituts You Gov in der Sunday Times damit, dass keine der beiden großen Parteien eine absolute Mehrheit gewinnen kann: "Vielleicht wird Farages wirklicher Beitrag zum britischen politischen System darin bestehen, dass er es durch den Zwang zur Mehrparteienkoalitionen europäischer macht." (Paul Lendvai, DER STANDARD, 25.11.2014)