"Die Unwissenheit über die Relevanz eines bindungsorientierten Unterrichts ist ein Skandal", sagt Christine Eichel, Autorin des Buches "Deutschland, deine Lehrer".

Foto: Thomas Kierok

STANDARD: In Ihrem Buch "Deutschland, deine Lehrer" schreiben Sie, "das ist ein Thema mit hohem Verletzungsrisiko" – für wen? Zumal Sie sich bei Ihren Recherchen über die "Risikopopulation" Lehrer ja in der "Rolle des Frontberichterstatters" wähnten.

Eichel: Die Schuldebatte ist emotional hoch aufgeladen. Es gibt eine verletzende Beschwerdekultur mit gegenseitigen Schuldzuweisungen. Das Klima ist vielerorts vergiftet. Schüler und Eltern kritisieren demotivierte, faule Lehrer, die Lehrer wiederum klagen über desinteressierte, renitente Schüler und wahlweise penetrante oder ignorante Eltern. Diese Frontbildungen verhindern, dass man sich gemeinsam um Verbesserungen bemüht. Stattdessen hofft man auf bildungspolitische Interventionen, die aber auf sich warten lassen. Die Leidtragenden sind letztlich Schüler und Lehrer.

STANDARD: Was bedeutet es, in Zeiten der "Bildungspanik", die der deutsche Soziologe Heinz Bude vor allem bei Mittelschichteltern konstatiert, Lehrer oder Lehrerin zu sein?

Eichel: Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass zu viele Schulabsolventen mangelhaft gebildet sind. Kein Wunder, dass die Eltern alarmiert sind. Verständlicherweise machen sie sich Sorgen, ob ihre Kinder den wachsenden Anforderungen der Berufswelt gewachsen sein werden. Vor allem aber die schlechte Motivation der Schüler wird beklagt. Oft verlassen sie die Schule mutlos, orientierungslos, planlos. Das zeigt sich übrigens auch an den Universitäten: 35 Prozent der deutschen Bachelorstudenten brechen ihr Studium ab. Die Gründe wurden wissenschaftlich erforscht: Sie lauten Überforderung, Selbstorganisationsschwäche, defizitäre Motivation. Das sollte den Lehrern zu denken geben.

STANDARD: Sie fordern eine "Qualitätsoffensive" für den Lehrerberuf? Was heißt das konkret?

Eichel: Es geht um eine umfassende Transformation des Lehrerberufs. Ihrem Selbstverständnis nach sollten Lehrer Coaches und Beziehungspersonen sein, die den Lernerfolg unterstützen, statt schlechte Leistungen mit schlechten Noten zu bestrafen. Dafür müssen sie besser, vor allem anders ausgebildet werden: Neben Fachkompetenz und didaktischem Know-how brauchen sie mehr Wissen über Kinder- und Jugendpsychologie, über Steuerungsprozesse in Gruppen, über Lernforschung und Motivationsbedingungen. Der nächste Schritt ist das Bewusstsein dafür, dass Lehrer nicht mehr selbstherrliche Autoritäten sein, sondern kooperativ arbeiten sollten. Also in Zusammenarbeit mit Schülern, Eltern und Kollegen. Das wird bisher nur an ganz wenigen Schulen praktiziert. Stattdessen ist ein Kampf aller gegen alle entbrannt. Dabei verlieren alle Beteiligten.

STANDARD: An der Uni Wien referieren Sie im Rahmen der vom Fachdidaktikzentrum Psychologie-Philosophie von Konrad Paul Liessmann, Katharina Lacina und Bernhard Hemetsberger mit dem STANDARD organisierten Vortragsreihe "De magistro – vom Pauker zum Lernbegleiter" über "Bindung, Bildung, Coaching. Warum die Revision des pädagogischen Selbstverständnisses überfällig ist" (Mittwoch, 26. Nov. 2014, 17 Uhr, NIG, Hörsaal 2i). Wieso ist sie das?

Eichel: Bindung und Bildung gehören zusammen, das ist in der Forschung unstrittig. Mit einem solidarischen, unterstützenden Gegenüber lernen wir motivierter, leichter und nachhaltiger. Hat ein Schüler Probleme, oft unverschuldet, weil er aus einem bildungsfernen Elternhaus stammt, wird er vom Lehrer aber meist abgelehnt. So gerät der Schüler in eine negative Schleife, wird verhaltensauffällig, die Konflikte schaukeln sich hoch. Die Lehrer spielen sich als Richter über gute und schlechte Leistungen auf. Vielen ist es egal, ob ihre Schüler erfolgreich sind. Das spüren die Kinder und Jugendlichen. Geraten sie aber an einen Lehrer, der ihnen signalisiert, dass ihr Erfolg ihnen am Herzen liegt, entsteht eine fruchtbare Lernbeziehung. Ein Umdenken ist erforderlich, und das ist ein langer Prozess, der von der Öffentlichkeit intensiv begleitet werden muss. Von selbst nehmen nur wenige Lehrer die Notwendigkeit dieses Rollenwechsels ernst. Die meisten meinen noch, es reiche aus, mit den immergleichen kopierten Aufgabenzetteln in die Klasse zu marschieren, nach dem Motto: "Friss, Vogel, oder stirb".

STANDARD: Was meinen Sie mit "Bindung"? Sind Sie sicher, dass sich Lehrer "binden" wollen?

Eichel: Viele Lehrer halten das für eine Zumutung, habe ich bei meinen Lesereisen erfahren. Sie fühlen sich schlicht überfordert. Wenn ich erzähle, wie an der ehemals chaotischen, gewaltgebeutelten Rütli-Schule in Berlin das Ethos einer Beziehungskultur gelebt wird, sind sie baff. Diese Schule hat sich eklatant zum Positiven verändert, seit die Lehrer sich als Bindungspersonen verstehen, sie besuchen jeden Schüler vor dem neuen Schuljahr zu Hause, sprechen mit den Eltern, machen sich ein Bild vom Umfeld. Die Lehrer veranstalten Elternfrühstücke und vieles mehr, was eine gemeinsame Zusammenarbeit begünstigt. Alle machen mit – auch Eltern aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund. Und die Lehrer versichern, dass sich die Mehrarbeit lohnt, weil sie zeit- und kräftezehrende Konflikte im Klassenzimmer verhindert. Leider ist dieses Beispiel nicht repräsentativ. Die Unwissenheit über die Relevanz eines bindungsorientierten Unterrichts ist ein Skandal.

STANDARD: Wie können Lehrerinnen und Lehrer "so etwas wie Beziehungskultur" in der Schule herstellen, wenn sie alleine in einer Klasse stehen?

Eichel: Das Missverständnis beginnt schon damit, dass viele Lehrer meinen, sie ständen einer Gruppe gegenüber. Sie sind Teil der Gruppe, natürlich mit einer spezifischen Rolle und Funktion. Das Stichwort ist Classroom-Management. Probleme wie Renitenzen und Provokationen müssen souverän gemanagt werden, indem der Lehrer dem betreffenden Schüler Aufmerksamkeit schenkt, zum Beispiel in einem Einzelgespräch. Das alte Denken, ein Lehrer müsse seine Schüler wie ein Dompteur seine Raubtiere im Griff haben, ist überholt. Jeder Mensch will geliebt und anerkannt werden. Das klingt simpel, vielleicht sogar sentimental, ist aber die Wahrheit. Wenn ein Lehrer ausstrahlt, dass er sich als Teil der Gruppe fühlt, dass ihm jeder am Herzen liegt und dass er auch als Mensch an seinen Schülern interessiert ist, erledigen sich viele Probleme.

STANDARD: Sie verlangen eine "Erneuerung von innen, nicht eine Reform von außen". Wie geht das?

Eichel: Lernforscher und renommierte Pädagogen wie John Hattie sind sich einig, dass die Lehrerpersönlichkeit eine zentrale Rolle für den Bildungserfolg der Schüler spielt. Es geht um Haltung. Die kann man nicht per Reform erzwingen. Zunächst sollten Lehrer bei sich selbst anfangen, denn alle Studien belegen, dass es ihnen nicht gutgeht - angesichts von Spitzenquoten bei Burnout, körperlichen und psychischen Erkrankungen. Sie fühlen sich überfordert und angefeindet. Und nicht nur das Klassenzimmer, auch das Lehrerzimmer ist oft vermintes Terrain. Ein kooperatives Klima unter den Lehrern wäre deshalb ein Anfang
(Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 24.11.2014)