Schlechtes Zeugnis für die österreichische Gerichtsmedizin.

Foto: Matthias Cremer

Wien - Wien wird ein Hang zum Morbiden nachgesagt. Der österreichische Wissenschaftsrat gibt am Freitag eine mögliche Erklärung dafür: "Wien ist die Wiege der Gerichtsmedizin", sagte Walter Rabl, gerichtsmedizinischer Vize-Direktor an der Innsbrucker MedUni, anlässlich der Präsentation der aktuellen Stellungnahme des Wissenschaftsrats zur Gerichtsmedizin in Österreich.

Das Urteil fällt hart aus. Die Mitglieder des Wissenschaftsrates sprechen von "dramatischem Mangel an Nachwuchs" (in den letzten sechs Jahren wurden nur vier Gerichtsmediziner ausgebildet), von fehlenden Ausbildungsplätzen und Berufschancen, vom wenig verlockenden Grundgehalt (2400 Euro brutto), von finanzieller Intransparenz und mangelnder Qualität; denn Obduktionen werden immer seltener oder aber von Pathologen durchgeführt, denen die nötige Expertise für strafrechtliche Relevanz fehlt. Folglich bleiben laut den Experten immer mehr Tötungs- oder Missbrauchsdelikte unerkannt und die Gerichtsmedizin erfülle ihre "gesellschaftlich unverzichtbare Aufgabe" schlechter und schlechter.

Keine Fachausbildung

Besonders viel Handlungsbedarf sieht der Wissenschaftsrat in Wien. Die Unterstützung der Gerichtsmedizin durch die MedUni sei minimal; Obduktionen seien deshalb von ehemals 3000 auf 400 jährlich gesunken. Kritisiert wird von den Experten vor allem, dass das Institut nicht mehr ausbildet; derzeit gibt es nur noch drei sachverständige Gerichtsmediziner. Außerdem müssten alle Obduktionen (sanitätsbehördliche und gerichtliche) unter einem Dach durchgeführt werden, womit der Wissenschaftsrat auf einen wunden Punkt trifft. Denn die Querelen um diese Frage haben in Wien fast schon Tradition.

Das Institut in der Sensengasse ist für gerichtliche, der Magistrat für sanitätspolizeiliche Obduktionen zuständig. Die Uni beklagt, dass es den Studenten an Übungsmöglichkeiten fehle; eine Fachausbildung deshalb, aber auch wegen der fehlenden Geldmittel nicht angeboten werde. Das liege unter anderem daran, dass die beauftragten Gutachten nicht im geleisteten Umfang bezahlt werden, heißt es aus der MedUni auf Standard-Anfrage. Die Finanzierung kritisiert auch der Wissenschaftsrat. Obduktionen seien derzeit nicht kostendeckend. Aufträge müssten direkt an die Universitäten anstatt an private Gutachter vergeben werden. Das fordert auch die MedUni Wien. (cmi, DER STANDARD, 22.11.2014)