Ein Maler mit unorthodoxen künstlerischen Methoden und einem nicht viel weniger passionierten Privatleben: Timothy Spall verkörpert in Mike Leighs "Mr. Turner" den Titelpart mit vollem Körpereinsatz.

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Mike Leigh (71) ist einer der wichtigsten britischen Kinoautoren, der auch viel fürs Theater gearbeitet hat. Für "Secrets and Lies" gewann er 1996 die Goldene Palme in Cannes.

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STANDARD: Ein Film über einen Maler wie William Turner ist immer auch die Reflexion einer anderen Kunstform, eines vorfilmischen Mediums. Wie wichtig war das?

Mike Leigh: Für den Gilbert-Sullivan-Film habe ich schon einmal die Kamera in die andere Richtung gedreht: Topsy-Turvy war ein Film über Künstler, die das fundierte Geschäft, trivial zu sein, sehr ernst nahmen. Mr. Turner handelt von einem Künstler, der das fundierte Geschäft, ernst zu erscheinen, ernst nimmt. Was viele Filme nicht zeigen, ist die Arbeit an den Gemälden selbst, den ganzen dreckigen Prozess: die Ärmel hochgekrempelt und los! Damit identifiziere ich mich am meisten, denn Filmemachen ist selbst ein schmutziges Handwerk. Die Spannung zwischen diesem exzentrischen, leidenschaftlichen Mann, der großzügig und hinterlistig sein konnte, und diesem epischen, spirituellen Arbeitsgeist bedeutet mir sehr viel. Eine gute Entschuldigung für einen Film.

STANDARD: Turner war ein Außenseiter, zugleich schon zu Lebzeiten angesehen. Ist sein asoziales Verhalten auch Ausdruck seines künstlerischen Temperaments?

Leigh: Meiner Meinung nach ist das nicht von Natur aus mit seiner künstlerischen Ader verknüpft. Aber es hat wohl eine Funktion für sein Bekenntnis zu dieser Reise: ein Fokus. Man muss das Ausmaß von Turners Schaffen berücksichtigen, es ist phänomenal. Und es ist fast alles noch da. Allein der Besitz der Tate umfasst 300 Gemälde, tausende Skizzen. Ein unüberschaubares Werk.

STANDARD: Es heißt, Sie haben mit Ihrem langjährigen Kameramann schon früher immer wieder über "Turner-Stimmungen" beim Drehen geredet. Wie sind Sie denn nun damit zurechtgekommen, digital und nicht mehr auf Film zu drehen?

Leigh: Der Look des Films sollte von Turner durchdrungen sein, ohne dass es aufdringlich, selbst beweihräuchernd wirkt. Natürlich bin ich ein Mann des 20. Jahrhunderts, ein Zelluloid-Mensch. Wir haben die Schlacht um den Film gekämpft, die Fahne geschwenkt - und nun haben wir digital gedreht. Aber es war aus keiner Laune der Enttäuschung heraus - nein, Fakt ist, dass es in Europa kaum mehr Filmmaterial gibt. Sehr erfahrene Leute haben hart daran gearbeitet, die digitale Technologie weiterzuentwickeln. Es ist fantastisch, was man alles damit machen kann.

STANDARD: Was hat sich denn verändert?

Leigh: Das ist eine sehr schwer beantwortbare Frage, weil wir den Film eben nicht auf Film gedreht haben. Wäre er auf Film besser geworden? Das kann ich nicht sagen. John Huston drehte Moby Dick 1955 in Schwarz-Weiß und in Farbe, um einen speziellen Farbeffekt zu erzielen. Wir konnten wirklich Turners Palette an Farben verwenden - das hat vieles erleichtert.

STANDARD: In einer Szene wird Turner fotografiert: Die neue Technologie scheint ihm nicht zu gefallen, dabei hat sie doch seinen Stil mitbeeinflusst.

Leigh: Mehrere Male im Film stellten wir uns die Frage, ob Turner den Wandel gutheißen würde. Und die Antwort ist immer: absolut, ja. Das ist zwar nicht im Film, weil es nicht dramatisch funktionieren würde: Jedes Mal, wenn es eine Innovation gab, leichte metallene Tuben etwa, die man ausdrücken konnte, war er der Erste, der es verwendete.

STANDARD: Den Unterschied Turners zu seinen Kollegen sieht man auch in der Szene in der Royal Academy gut. Er fällt heraus, spuckt auf sein Bild, verwischt den Speichel.

Leigh: Das ist so passiert. Es gibt Berichte darüber nachzulesen. Ich habe die Szene gewissermaßen rekonstruiert. John Constable hatte tatsächlich ein beträchtliches Defizit an Humor. Er ist da hineingegangen, als wollte er einen Schuss abgeben. Wir haben den Beziehungen in der Vorbereitung viel Aufmerksamkeit gewidmet. Auch die Schauspieler, die Maler spielen, sind Schauspieler, die malen.

STANDARD: Timothy Spall auch?

Leigh: Nicht wirklich ... Aber wir haben ihn, zwei Jahre bevor wir den Film drehten, zu einem Lehrer geschickt. Die Leute sagen immer: "Das ist ja ungewöhnlich!" Was soll daran ungewöhnlich sein? Er spielt William Turner!

STANDARD: Wie verändert sich Ihre Arbeit bei einem "period piece"? Sie sind bekannt für die Freiheiten in der Vorbereitung, lange Probenprozesse.

Leigh: All diese Fragen der Inspiration und gemeinsamen Vorbereitung stellen sich auch, wenn der Film in der Vergangenheit spielt. Wenn man wie Mr. Turner Geschichte dramatisiert, dann kann man Millionen Bücher lesen, aber all das wird sie vor der Kamera nicht lebendig machen. Das gelingt nur, wenn ich dieselbe Arbeit wie immer mache. Man muss die Figuren auf dreidimensionale Weise entwerfen, zugleich müssen sie von der Zeit durchdrungen sein.

STANDARD: Es gibt eine Szene, wo Turner den Besuchern der Galerie nachspioniert. Ist das erarbeitet?

Leigh: Auch das ist passiert. Reine Recherche. Er baute die Galerie außerhalb seines Hauses, und wenn Leute die Gemälde anschauen kamen, ließ er sie zuerst in einem dunklen Raum stehen. Er hatte Gucklöcher in den Wänden, um ihre Reaktionen zu sehen. Das hätte ich nicht erfinden können!

STANDARD: Er ist auch Regisseur seines Werks?

Leigh: Ja, das ist er.

STANDARD: Definitiv erfunden ist die Beziehung zu seinem Hausmädchen, die ins Sexuelle geht.

Leigh: Stimmt. Aber es erschien uns richtig, weil möglich. Es ist keine unerlaubte Zumutung. Sie war ihm sehr ergeben und eine einzelgängerische Frau. Wir wussten aus unserer Recherche, dass Turner ins Bordell ging - er hatte also einen Geschlechtstrieb.

STANDARD: Wie haben Sie Turners Physis mit Spall kreiert? Er spricht recht grummelig, man könnte meinen, er glaubt, Sprache sei überschätzt.

Leigh: Da muss man vorsichtig sein. Es gibt Passagen, in denen er auch eloquent ist. Er verwendet sogar klassische Anspielungen. An einer Stelle rezitiert er sein Gedicht. Doch es gibt keinen Zweifel daran, dass er Geräusche machte und oft knurrte. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 22./23.11.2014)