Wir haben unseren sechsjährigen Sohn gerade aus der öffentlichen Volksschule genommen. Manche in der Schule haben sich um ihn bemüht, andere weniger. Knapp zwei Monate hat er gekämpft, mit dem System "Schule" zurande zu kommen. Am Ende stand er einer pädagogischen Praxis machtlos gegenüber, in der der Lernstoff mit dem Gießkannenprinzip dargeboten wird.

Mein Sohn hat das Asperger-Syndrom, eine Autismusspektrumstörung, bei der sehr hohe kognitive Intelligenz mit reduzierten Fähigkeiten beim Lesen sozialer Codes einhergehen. Für die Schule war seine Anwesenheit eine Überforderung, dabei hätte sie auch zur Bereicherung werden können. Es fiel ihm zu schwer, sich in den Mittelweg einreihen zu müssen, der für alle Kinder gleichermaßen vorbestimmt war. Er fand sich nicht im Marathon von Zahlen und Buchstaben wieder, die Tag für Tag in Reih und Glied geordnet werden mussten. Er fühlte sich nicht angesprochen von "Wir machen jetzt alle ..."-Aufforderungen. Er konnte seine Besonderheiten nicht verstecken, während er fünf mal sieben Ameisen rechnete und ihn zeilenweises 1er-Schreiben ob seiner Sinnlosigkeit verwirrte. Die meisten seiner jungen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden wunderten sich wohl auch, aber ihnen fällt es leichter, sich anzupassen.

Mein Sohn ist ein Einzelfall, der aber zeigt, wie schwer unserem System "Schule" die Individualförderung fällt. Und wie starr unser Bildungssystem im Status quo einbetoniert ist. Sein Anderssein hätte auch für seine Klassenkolleginnen und Klassenkollegen eine Einladung sein können, ihre Besonderheiten zu entdecken. Eine Klasse der Vielfalt hätte es werden können. Ein Ort, der Kinder dazu begeistert, ihre individuellen Fähigkeiten und Stärken auszubauen. Ein Umfeld, das auf die subjektiven Bedürfnisse stärker Rücksicht nimmt und danach trachtet, neue Talente zu entdecken. Doch diese Talente werden unserem Land fehlen.

Jedes Kind freut sich auf seinen ersten Schultag. Kinder sind wissbegierig und neugierig. Doch dann? Viele Eltern, deren Kindern gerade eingeschult wurden, erzählen, wie schnell dieses Gefühl verschwindet. Ich gehöre jetzt auch zu diesen Eltern. Und ich frage mich, warum sich in den Schulen unseren Landes seit Jahren nichts Substanzielles ändert, obwohl wir aus vielen internationalen Fallbeispielen längst wissen, was alles möglich wäre.

Die Herausforderungen, die auf unser Land zukommen, sind komplex. Um sie zu meistern, brauchen wir Menschen, die nicht nur lineare Zusammenhänge herstellen, sondern auch in Kausalitäten denken können. Unsere Wirtschaft braucht mutige Unternehmerinnen und Unternehmer, die über den Tellerrand schauen können. Unsere Gesellschaft braucht Menschen, die ihre Talente erkannt haben und auf Mittelmäßigkeit und Gleichschaltung pfeifen. Für unser Zusammenleben brauchen wir Menschen mit Social Skills, die Verantwortung übernehmen und Konsequenzen abschätzen können.

Als Vater versuche ich mein Bestes, meinem Sohn diese Fähigkeiten mitzugeben. Ich weiß auch, dass viele Lehrerinnen und Lehrer das Maximum aus dem starren Bildungssystem herausholen. Doch welchen Beitrag leisten die verantwortlichen Politiker?

Anstatt endlich umzusetzen und sich an den klaren wissenschaftlichen Erkenntnissen zu orientieren, betreiben sie weiterhin ideologische Grabenkämpfe, mit der Zukunft unserer Kinder als Spielball. Wird - egal woher - eine zukunftsweisende Idee zur Diskussion gestellt, beurteilt man sie erst einmal nach ihrer parteipolitischen Punzierung. Bildung muss eine ideologiefreie Zone werden und darf kein Opfer von politischen Einzelinteressen bleiben.

Seit Jahren wächst der Widerstand, und immer mehr Initiativen, wie die erste bildungspolitische NGO des Landes "Jedes Kind", "Teach for Austria" oder "Neustart Schule" fordern tiefgreifende Bildungsreformen. Aus der stillen Masse der Befürworter einer Bildungswende hat sich mittlerweile eine starke Interessenvertretung formiert, die sich den Blockierern von gestern gegenüberstellen kann.

Wir haben eines der teuersten und gleichzeitig ineffizientesten öffentlichen Schulsysteme. Dabei sind es oft gar nicht die Mittel, sondern die Methode, die den Unterschied macht. Mein Sohn wird im Dezember in eine private Montessori-Schule wechseln. Dort lernen Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren gemeinsam das, was ihrem jeweiligen Wissens- und Interessensstand entspricht. Kinder erhalten ein hochwertiges Angebot von Materialien, mit denen sie sich das Wissen selbst erarbeiten. Dabei lernen meist Kinder von Kindern, die Gruppe spornt sie an, über sich selbst hinauszuwachsen. Das Curriculum geht weit über die althergebrachten Werkzeuge wie Lesen, Schreiben, Rechnen hinaus und lässt die Kinder zu selbstständigen, teamfähigen und kreativen Menschen heranreifen, die sich als Gruppe verstehen und nicht als Einzelkämpfer.

Mein Sohn wird in diesem Umfeld hoffentlich seine Talente möglichst gut entwickeln können. Heute frage ich mich, warum es im Jahr 2014 notwendig ist, die öffentliche Volksschule verlassen zu müssen, um bestmögliche Rahmenbedingungen für die Basisbildung eines Kindes vorzufinden.

Die Rezepte liegen längst auf dem Tisch. Tausende Eltern, Pädagogen und Bildungsexperten machen Druck. Nun ist die österreichische Bundesregierung am Zug, den Ball in der Bildungspolitik endlich ins Rollen zu bringen. (Philippe Narval, DER STANDARD, 22.11.2014)