Würde heute in Spanien gewählt werden, dann wäre der eindeutige Wahlsieger Podemos. Eine Protestpartei, die sich im Gefolge der Protestbewegung der Indignados - der Empörten - gebildet hat, im Zuge deren 2011 mehrere Hunderttausend Menschen die größten Plätze Spaniens besetzt hatten. Seitdem hat sich in der Zivilgesellschaft viel getan. Das Land ist überzogen von Initiativen, die gegen Delogierungen vorgehen, fast täglich werden neue Parteien und Gruppen im Geiste der Bewegung gegründet.

In Sevilla organisieren sich "Mülltaucher", also jene, die ihr Essen in Abfalltonnen suchen. Soziale Zentren - viele davon in besetzten Häusern - bieten Unterkunft für Obdachlose, Sprachkurse für Immigranten und Kleiderausgaben an. In fast jeder Stadt werden täglich Ausspeisungen für Hungernde organisiert. Familien verköstigen privat "hijos de la crisis" - also Kinder der Krise, die ansonsten hungrig in die Schule gehen würden.

All dies ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Seit 2007 gab es 570.000 Delogierungen, allein in Granada verlieren täglich drei Familien ihre Wohnung, Tendenz steigend. Seit April gab es in diesem Zusammenhang acht Selbstmorde. Täglich verlassen gut ausgebildete Jugendliche das Land - "Wir gehen nicht freiwillig, sie werfen uns hinaus" ist ihr Slogan angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von weit über 50 Prozent. Die, die bleiben, müssen oft bei Eltern oder Großeltern wohnen, selbst wenn sie Arbeit haben. Prekäre Arbeitsbedingungen erlauben keinen Aufbau einer eigenen Existenz. Über 25 Prozent der Spanier leben an oder unter der Armutsgrenze. All dies ist eine Schande für Europa.

Ein Teil der Probleme ist hausgemacht, vor allem durch die überwältigende Korruption. Ein Teil allerdings ist Folge der europäischen Politik. Die zunehmende Orientierung an Wirtschaftsinteressen statt an sozialen Standards, die Unterordnung des Gemeinwohls unter individuelle Interessen, die Individualisierung von Gewinnen und Kollektivierung von Risiken der Finanzmärkte - all dies mit den Folgen einer zunehmenden Ungleichverteilung in ganz Europa, das alles bekommen Länder des Südens nur stärker zu spüren. Folgen sind Politikverdrossenheit sowie der Zulauf der Krisenverlierer zu nationalistischen, ausgrenzenden und rechtsextremen Strömungen.

Und in Spanien? Hier erfährt eine Partei 27 Prozent Zustimmung, die das System ändern möchte. Die sich für partizipative Demokratie einsetzt, für einen radikalen Ausbau des öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems, für eine Umstrukturierung des Finanzsystems, für ein Basiseinkommen und deutliche Umverteilung. Eine Partei, die für viele zu radikal ist, als Gefahr gesehen wird. Die für radikale Veränderungen kämpft und vielen daher Angst macht.

Wirklich radikal wäre aber eine weitere Abwendung der Jungen von der Politik und von Europa. Wirklich radikal ist die Wut, die (nicht nur) hier in Spanien spürbar ist. "Es ist eine Mafia", heißt es mit Blick auf die "politische Kaste", es ist alles "durch und für sie" organisiert, für die Reichen, die Politik und die herrschenden Institutionen. Es ist eine Schande, heißt es, dass Banken gerettet, aber Familien alleingelassen würden. "Señora Merkel" und andere Politiker des Nordens interessierten sich nur für Interessen der Wirtschaft. Das grundlegende Misstrauen gegenüber der Politik und Europa äußern nicht nur Anhänger von Podemos. Vom Uniprofessor bis zum Taxler, die Wut über Ungerechtigkeiten des Systems ist weit verbreitet, sitzt tief, ist groß.

Die Podemos-Partei kanalisiert nicht nur Interessen einer intellektuellen Elite, sondern auch die der Arbeitslosen sowie der Jugend. Ihre Erfolge bei der Europawahl haben eine große Dynamik der Mobilisierung ausgelöst. Sie haben Energie freigesetzt und Hoffnung gemacht. Und darin besteht auch Hoffnung für Europa. Es kann froh sein, dass sich hier die Krisenverlierer nicht nur rechtspopulistischen Strömungen zuwenden, sondern dass konstruktive Lösungsvorschläge entwickelt werden. Und es täte gut daran, die Wut auf das System und über die Ungleichheit, die es produziert, ernst zu nehmen.

Wenn die Politik das Vertrauen der Jungen wiedergewinnen will, dann braucht es eine entschlossene Sozial- und Bildungspolitik. Es braucht mehr Transparenz in politischen Institutionen. Vor allem braucht es einen stärkeren Dialog. Anstatt zuzulassen, dass Aktivisten sanktioniert und als zu radikal ausgegrenzt werden, muss Europa auf seine Jugend hören und versuchen, von den sozialen Bewegungen zu lernen. (Ruth Simsa, DER STANDARD, 21.11.2014)