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Anhänger von Nidaa Tounes, der säkularen tunesischen Partei, bei einer Wahlveranstaltung.

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"Tunesien, die erste Demokratie der arabischen Welt!", hat jemand an der Avenue Bourguiba - dort, wo am 14. Jänner 2011 der Arabische Frühling mit dem Sturz des Diktators Zine el Abidine Ben Ali den ersten Erfolg feierte - auf einen Bauzaun gesprüht. Das Land befindet sich seit knapp zwei Monaten im Dauerwahlkampf. Ende Oktober wurde das Parlament gewählt, am kommenden Sonntag findet die erste Runde der Präsidentschaftswahlen statt.

27 Kandidaten stellen sich der Wahl, aber es geht vor allem um zwei: um den aktuellen Präsidenten Moncef Marzouki; und um Béji Caïd Essebsi, Veteran aus den Tagen der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich sowie Ministerpräsident einer der drei Übergangsregierungen vom Sturz Ben Alis bis zur freien Wahl zur Verfassungsgebenden Versammlung.

Überall in den großen Sälen des Landes geben sich die Kandidaten förmlich die Klinke für ihre Wahlveranstaltungen in die Hand. So auch in der Coupule, der Sporthalle im Norden der Hauptstadt, wo jüngst Essebsi an der Reihe war.

Es braucht einen neuen Mann

Die Nationalfarbe Rot bestimmt die Szene. Auf zwei Großleinwänden auf der ebenfalls roten Bühne werden in einem Video die Wirren der Übergangsjahre gezeigt. Bilder von Demonstrationen und Polizeiübergriffen sollen die Jugend ansprechen, die Ben Ali vertrieb. Dazu Aufnahmen von den wenigen Terroranschlägen und von Aufmärschen der Salafisten. Die Botschaft ist klar: Präsident Marzouki hat versagt, es braucht einen neuen Mann, einen mit Erfahrung. So wie Essebsi, einst Innen- und Außenminister unter dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba. Essebsi tritt nun für die Partei Nidaa Tounes an, die im Oktober stärkste Kraft im Parlament wurde.

Eine Frau unter 27 Kandidaten

Asma Chijdi hört gebannt zu. Die 21-jährige Medizinstudentin schwankt noch, sagt sie, obwohl ihre Stimme im Oktober Nidaa Tounes gehörte. "Es ist eine säkulare Partei. Ich habe sie gewählt, damit die Islamisten von Ennahda nicht erneut regieren", erklärt sie, wohl stellvertretend für die meisten derer, die für die Partei stimmten. Nidaa Tounes wurde vor zwei Jahren von Gewerkschaftern und Liberalen gegründet, um den Islamisten etwas entgegenzusetzen - aber auch von früheren Mitgliedern des Regimes von Ben Ali.

Chijdi hat neben Essebsi weitere zwei Kandidaten auf ihrer Liste: den Kommunisten Hamma Hammami, der für das Linksbündnis "Volksfront" ins Rennen geht, sowie die aus den Jahren der Diktatur bekannte, mutige Richterin Kalthoum Kennou - die einzige Frau unter den 27 Kandidaten.

Ghasi Ghezal wird auf jeden Fall Essebsi wählen. "Wir brauchen jemand, der die Wirtschaft ankurbelt, und wir brauchen eine starke Hand", sagt der 45-jährige Besitzer eines kleine Cafés. Demokratie sei gut, aber es brauche auch Ordnung. "Unter dem alten Regime gab es keine Kriminalität."

Warnung vor Rückschritten

"Dégage!" (Verschwinde!), hallte es später durch die Straßen von Sfax, der zweitgrößten Stadt des Landes. Dort im Süden hält Marzouki eine Veranstaltung ab. Tausende protestieren gegen ihn, während ihm im Saal seine Anhänger Beifall zollen. Der 69-jährige einstige Menschenrechtler und säkulare Exilpolitiker braucht die Stimmen Ennahdas, mit der er bisher in einer Koalition regierte. Seine eigene Partei, der Kongress für die Republik (CPR), verlor im Oktober 25 der 29 Sitze Parlamentssitze. Marzouki warnt vor "der Rückkehr zum alten Regime" und meint damit Essebsis Partei.

Solche Reden und Proteste wie in Sfax machen in kürzester Zeit die Runde in den sozialen Netzwerken, seit den Tagen der Revolution eine der wichtigsten Informationsquellen der Tunesier.

Asma Chijdi kann sich nach dem Meeting von Essebsi noch immer nicht entscheiden, wen sie denn am kommenden Sonntag wählen wird. Sie hat es nicht eilig. Auch wenn es das erste Mal ist, dass in Tunesien ein Staatschef vom Volk gewählt wird: Das System ist nicht neu. Sie kennen es zur Genüge aus dem französischen Fernsehen. "Die erste Runde mit dem Herzen und die zweite mit dem Kopf", erklärt Chijdi, wie das geht. (Reiner Wandler aus Tunis, DER STANDARD, 20.11.2014)