Wien - Wie jung die sind. Das Durchschnittsalter der ersten Geigen würde man auf unter 40 schätzen. Noch bemerkenswerter: Es gibt in dieser Stimmgruppe zwar drei Quotenmänner (zwei davon allerdings am Stimmführerpult), aber sonst spielen nur Frauen. Du, glückliches Holland, musiziere.

Ja, das Concertgebouworchester ist wieder in der Stadt. Fast hätte man den Musikverein anvisiert, weil die Königlichen eigentlich immer dort gespielt haben, aber nein: Diesmal gastieren sie im Wiener Konzerthaus. Noch jünger als die Musiker des 126 Jahre alten Amsterdamer Klangkörpers aber ist der Dirigent: Robin Ticciati zählt gerade mal 31 Lenze und ist trotzdem schon Chefdirigent des Scottish Chamber Orchestra, Musikdirektor des Glyndebourne Opera Festivals und sehr gefragt. Ticciatis Haupt ziert der wuscheligste Lockenkopf seit Sir Simon Rattle, er dirigiert aber ganz anders als dieser: Mit schlingernden, schlangenartigen Slow-Motion-Bewegungen, alles sehr behutsam, wie auf Zehenspitzen. Das französische Programm beginnt mit Faurés Suite aus Pelléas et Mélisande, und es beginnt unglaublich beeindruckend: Das Orchester ist von der ersten Sekunde an voll präsent. Nach einer Generalpause, die Ticciati regelrecht zelebriert, setzt es mit einer Behutsamkeit ein, die einen kurz das Atmen einstellen lässt, und dann folgt ein Crescendo mit Kraft und Zug und Herz ... Wow.

Noch mehr haut einen dann Vesselina Kasarova um. Für die erkrankte Elina Garanca eingesprungen, bietet der Mezzostar in Hector Berlioz' La mort de Cléopâtre eine Performance von einer Intensität, wie man sie seit Jessye Norman nicht mehr erlebt hat. Trotz ihrer roten Robe von einer David-Bowie-haften Androgynität, durchlebt Kasarova die "lyrische Szene" mit der Expressivität einer großen Stummfilmdiva: manieriert, hochartifiziell, hyperintensiv. Den enormen Ambitus des radikalen Werks durchmisst die Bulgarin mit einem Mezzo, dessen Timbre an dunkel glänzende Schokolade erinnert. Nur ihr Französisch ist etwas seltsam.

Ravels Valses nobles et sentimentales und Debussys La mer beschließen den Abend. Man verortet das Concertgebouworchester als eine umwerfende Mixtur aus den Berliner Philharmonikern, die Rattle auf drahtige Durchtrainiertheit getrimmt hat, und den weich-wohlklingenden Wienern. Begeisterung, keine Zugabe. (Stefan Ender, DER STANDARD, 20.11.2014)