Keine Angst: Das wird jetzt nicht die 47. "Wir sind Helden"-Story über die Lauferei in New York Anfang November. Obwohl es da schon noch einiges zu erzählen …

Nein, im Ernst: Es geht um etwas anderes. Auch wenn NY42 Anlass und Bildergeber dieser Geschichte ist. Denn mein Kollege Simon hatte eine Frage, die sich nur indirekt auf den Marathon in Siewissenschonwo bezog: "Wie ist das mit der Kälte vor so einem Rennen?", fragte Simon - und hängte eine zweite, Auch-nicht-Wettkampf-Frage dran: "Ich würde lieber im Herbst und Winter als im Sommer laufen - aber was soll ich anziehen? Ich habe Angst, mich zu verkühlen."

Die Frage ist berechtigt. Nur gibt es blöderweise keine einheitliche oder endgültige Antwort. Dazu später. Simon war nicht der Einzige, der die Frage nach der Kälte stellte.

Schließlich ist es schon schlimm genug, wenn man am Weg zum Lauftreffpunkt friert - und die Perspektive, vor dem Start eines "durchschnittlichen" Wettkampfes bibbernd im Startblock zu stehen, ist einer der Gründe, wieso Simon sich das "sicher nicht antun will. Auch wenn ihr alle vom Danach vollkommen entrückt seid."

Foto: Thomas Rottenberg

Frieren ist elend. Vor einem Lauf frieren noch elender. Besonders elend ist es, wenn man - eben in Siewissenschonwo - um 7 Uhr in der Früh im Startrevier sein muss und weiß, dass man erst gegen 10 Uhr (oder noch später) loslaufen wird können. Noch dazu, wo in der Nacht ein Mail der Veranstalter kam: Wegen des Sturmes wurden alle Zelte abgebaut, es werde um die null Grad haben - und man sei daher dringend gebeten, alles anzuziehen, was man entbehren kann. Und noch ein bisserl mehr.

Entbehren? Ja: Mit den Jacken, Pullis und Hosen die nach dem Start eines größeren Laufes an der Startlinie liegen, könnte man Kleinstädte einkleiden. Schließlich friert vor einem Lauf niemand gerne - aber unterwegs will keiner vier Shirts herumschleppen. Und: Vergessen Sie, falls Sie noch nie bei so etwas dabei waren, die Idee, Ihr Zeug im Garderobenbeutel zu verstauen und im Ziel wieder anzuziehen: je größer der Event, desto früher schließen die Garderoben; oder Sie müssen in Ihren Startblock. Frieren oder wegschmeißen also. Dementsprechend seltsam sehen Läuferinnen und Läufer vor dem Start oft aus.

Foto: Thomas Rottenberg

In der Regel reicht ein alter Pulli und ein Müllsack, in den man ein Kopf- und zwei Armlöcher schneidet. Die Luxusversion ist die Pelerine vom letzten Open-Air-Event. Profis haben Zeitungen und ein Stückerl Isomatte mit. Lange Hosen? Geschmacks- und Empfindlichkeitssache. Normalerweise.

Für vor Siewissenschonwo hatte ich ein altes, dickes Sweatshirt, ein altes Langarmlaufshirt und einen Müllsack. An den Beinen bin ich nicht so kälteempfindlich. Außerdem laufe ich alles über 25 Kilometer ohnehin in "Tubes" (Unterschenkel-Kompressionssocken ohne Fußteil) - egal, was Sie davon halten.

Das war der Plan. Bis zum Wetterbericht am Tag davor: Da kauften wir die dicksten und billigsten und hässlichsten Jogginghosen, die wir finden konnten. Außerdem beschloss ich, als die Wind- und Wetterwarnung in der Nacht kam, ein Skiunterleiberl zu opfern. Und die Windjacke, die Andy Perers Runners-Unlimited-Reisebüro jedem Mitreisenden geschenkt hatte.

Unter alldem würde ich beim Lauf selbst anfangs nicht bloß ein ärmelloses Shirt, sondern ein ärmelloses und ein kurzärmliges Leiberl und einen ärmellosen Windstopper tragen. Und sukzessive abwerfen. Um Letzteren würde ich trauern - aber wegschmeißen ist allemal besser als sich den Tod holen.

Trotzdem: Ich kam mir wie ein verweichlichtes Lulu vor.

Foto: Thomas Rottenberg

Vor Ort war rasch klar: Ich hatte nicht über-, sondern untertrieben. Ich fror. Der Wind biss durch all meine Schichten, als wäre ich nackt. Ich hatte eine Windstopper-Gore-Haube auf, Windstopper-Bike-Ärmlinge und leichte Handschuhe an - aber als die Goodie-Truppe einer Donut-Kette mit unsäglich hässlichen Plüschhauben durch die Menge zog, holte ich mir so ein Ding.

So wie alle anderen: Jedes Fuzerl Plastik, jedes Stück Karton, jeder Flecken Stoff war heiß begehrt - und weil es trotzdem nicht warm wurde, taten wir, was man in Bergnot- und in Survivalkursen lernt: auf Tuchfühlung gehen. Mit Wildfremden. Wurscht, ob mit Männlein oder Weiblein.

Foto: Thomas Rottenberg

Amerika ist anders. Während in Europa beim Start alles fliegt, ist das Wegschmeißen hier organisiert. Amerikaner sind brav. Aus europäischer Sicht wirkt das oft geradezu devot. Manchmal hat so etwas Vorteile: etwa wenn beim Marathon in Siewissenschonwo Volunteers die in den Startkorridoren abgeworfenen Kleidungsstücke in Container stopfen und Bedürftigen zukommen lassen.

Nur waren diesmal die Bedürftigen neben uns: Der Start erfolgt in 20-Minuten-Wellen. Jede Welle ist unterteilt. In "Corals", also Sektoren. Mit mannshohen Zäunen. In die Corals darf nur, wer hier seinen Startplatz hat (oder weiter vorne hätte starten dürfen). So vermeidet man das anderswo, etwa in Wien, unerträgliche Startblock-Vorschummeln.

Ich startete in Welle eins in Coral D. Draußen, vor dem Zaun, froren die Leute der späteren Wellen. Also warfen wir unser Zeug zu ihnen hinüber: Die Firnis der Zivilisation ist bei manchen Zeitgenossen nur eine sehr, sehr dünne Lackschicht …

Foto: Thomas Rottenberg

Beim Lauf selbst war dann kleidertechnisch rasch alles normal. Hier komme ich zu Simons zweiter Frage: Es gibt kein Richtig oder Falsch, sondern nur individuelle Lösungen. Und die findet man auf genau eine Art und Weise: per Trial & Error.

Für mich persönlich gilt die nicht pauschalierbare Skitourenweisheit: Wenn es zu Beginn fröstelt, ist es ab dem Warmwerden richtig. Nur: Wie unterschiedlich das ist, sah man in Siewissenschonwo sofort. Während manche Läufer bis Kilometer zehn und länger Pullis trugen, waren andere praktisch ab dem Start ärmellos und in Kürzestshorts unterwegs.

Ich selbst warf meine Werbe-Wuschelmütze nach 500 Metern weg und schenkte meine Handschuhe nach zwei Kilometern einem frierenden Mädchen. Die Ärmlinge behielt ich: Ich habe diese Teile beim Radfahren lieben und beim Laufen schätzen gelernt. Je nach Sonnen- und Windlage ziehe ich sie fast bis zur Schulter rauf oder schiebe sie zum Handgelenk runter. Denn: Lange Ärmel aufstricken löst Arm- und Finger-auskühl-Probleme für mich genau in der falschen Richtung.

Die Kombi Ärmling-Kurzarm-Ärmellos hatte ich in Wien getestet: Für mich ist sie ideal. Der ärmellose Windstopper war eine schlaue Ergänzung - weil mich die langen Ärmel einer Jacke nur genervt hätten. Bis Kilometer 15 war das perfekt. Dann kam die Sonne durch, aber der Wind blieb: Rund um mich flogen oberste Schichten ins Publikum. Ich wollte das T-Shirt loswerden, hätte aber mit Kamera und Windstopper herummurksen müssen - und behielt alles an.

Foto: Thomas Rottenberg

Bei Kilometer 25 verabschiedete ich mich vom Wind-Gilet, bei Kilometer 33 vom T-Shirt. Neben mir liefen immer noch Leute mit Wollmütze, Schal oder Fleecejacke, während ich mich dafür verfluchte, statt der Overknee nicht doch eine kurze Hose angezogen zu haben. Und so weiter …

Daheim hätte ich mein Zeug nicht weggeschmissen, sondern am Gürtel befestigt. Oder in den Rucksack gestopft. Auch wenn andere blöd schauen, habe ich ganz gerne ein trockenes Leiberl in Reserve. Für mich. Oder wen anderen.

Das sagte ich auch Simon: "Bis du weißt, wie deine Kleiderstrategie aussieht, nimm einen Trail-Rucksack. Zu wissen, dass du im Notfall, in der U-Bahn oder wenn du noch einen Kaffee trinkst, nicht frieren musst, gibt Sicherheit. Pfeif drauf, wie andere schauen."

Foto: Thomas Rottenberg

Das mit dem Heimweg galt im Übrigen auch in Siewissenschonwo: Nach dem Ziel bekam da zwar jeder eine Thermofolie, aber der Weg zu den Gepäckwagen war lang. Elend lang. Im Sackerl hatte ich nur ein einziges Leiberl - alles andere hatte ich ja beim Start geopfert. Und der Weg zurück zum Hotel beim Times Square war dann noch länger: Hätte ich ganz auf das Abgeben von Gepäck verzichtet und das im Vorhinein so angemeldet, hätte ich einen der legendären NY-Ponchos bekommen.

Und trotzdem gefroren.

Aber das ist eine andere Geschichte. Sie hat nichts mit der zweiten Frage von Simon zu tun. Und ob ich ihm die beantworten konnte, weiß ich im Grunde auch jetzt noch nicht. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 20.11.2014)

Foto: Thomas Rottenberg