"Okay, but why Jewish?" Die Warschauer Modeschöpferin Antonina Samecka bringt mit ihren Kreationen jüdische Identität als coole Selbstverständlichkeit in den polnischen Alltag.

Foto: Kirchengast

Das neue Museum in Warschau stellt auch die Vielfalt der jüdischen Presse Anfang des 20. Jahrhunderts dar.

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Das Jewish Community Center im Krakauer Kazimierz-Viertel.

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Ein Hinterhof in der Szpitalna, einer Seitengasse im Zentrum Warschaus. Backsteinmauern, auf einer Hauswand ein riesiges Graffito. Der kleine Gastgarten gehört zu einem Café, das eigentlich keines ist. Hier werden die Kunden einer Modeboutique bewirtet. Die Kollektion: Kapuzenpullover, Kleider, Sakkos, smokingartige Jacken und andere Abwandlungen klassischer Kleidungsstücke, auch für Kinder, das meiste aus weichem hellgrauem Bauwolljersey.

Manche Stücke tragen Ornamente - Abwandlungen des Davidsterns. Auf einem T-Shirt steht: "Oy oy oy my boy is goy." Goi bedeutet im Hebräischen Nichtjude. Spätestens jetzt ist klar, dass es hier nicht nur um Mode geht.

Davidstern um den Hals

Risk heißt die Marke, und der Name ist Programm. Das kommerzielle Risiko ist längst kein Thema mehr, denn das Label steht inzwischen an erster Stelle der unabhängigen Modemarken in Polen. Mehr als 30 Mitarbeiter stellen die begehrten Klamotten her, mehr als doppelt so viele sind als externe Partner an Produktion und Vertrieb beteiligt.

2011 gründete die damals 28-jährige Antonina Samecka mit ihrer Kreativpartnerin Klara Kowtun in einem spontanen Entschluss die Firma. Dabei war der zweite Teil des Risikos der heiklere. Samecka ist Jüdin. Sie berichtet, dass Freunde in den USA ihr mit Unverständnis begegneten, als sie ihnen erzählte, dass immer mehr junge Polen ihre jüdischen Wurzeln zu erforschen beginnen. Als sie von einer Israel-Reise mit dem Davidstern um den Hals zurückkehrte, beschwor ihre Großmutter, eine Holocaust-Überlebende, sie, die Kette abzunehmen. Das sei zu gefährlich.

Historische Konstante

Die Großmutter spielte auf den Antisemitismus an, eine Konstante der polnischen wie der gesamteuropäischen Geschichte mit den bekannten Folgen. Rund 90 Prozent der mehr als drei Millionen polnischen Juden wurden von den Nazis ermordet. Der polnische Antisemitismus seinerseits entlud sich durch die Jahrhunderte immer wieder in Pogromen. Einer der blutigsten, jener von Jedwabne im Juli 1941, wurde vom polnisch-amerikanischen Soziologen und Historiker Jan Tomasz Gross 2001 in einem Buch thematisiert, das in Polen die erste breite Debatte über polnische Täterschaft auslöste.

Noch ein Jahr nach Kriegsende, Anfang Juni 1946, waren bei einem Pogrom in Kielce mehr als 40 Judenermordet worden. Das führte zu einer Auswanderungswelle unter den Überlebenden des Holocaust. Die Massenemigration wiederholte sich 1968 und in den Folgejahren, nachdem das kommunistische Regime eine antisemitische Kampagne lanciert hatte. Heute wird die Zahl der in Polen lebenden Juden auf 10.000 bis 25.000 geschätzt - von insgesamt 38,5 Millionen Einwohnern.

Komplizierte Gemengelage

Die lange tabuisierte Täterrolle hängt auch mit den enormen Opfern unter der nichtjüdischen Bevölkerung während der deutschen Besatzung zusammen. Und damit, dass viele Polen trotz der Todesstrafe, die darauf stand, Juden schützten und ihnen halfen.

Die polnische Exilregierung in London deckte im November 1942 als Erste die Existenz von Konzentrationslagern und die systematische Vernichtung der Juden auf, dank der Informationen, die der Kurier Jan Karski lieferte. (Das Polnische Institut in Wien zeigt ab 20. November eine Ausstellung über Karski.) Und sie war die einzige Regierung in Europa, die eine Hilfsorganisation für Juden in Polen aufbaute.

Diese komplizierte psychologisch-historische Gemengelage erklärt zumindest teilweise, warum es fast 70 Jahre dauerte, bis unter Beteiligung des polnischen Staates ein Museum zur Geschichte der polnischen Juden errichtet werden konnte. Polin (Hebräisch und Jiddisch für Polen), wie es offiziell heißt, wurde Ende Oktober auf dem Gelände des einstigen Warschauer Ghettos eröffnet (derStandard.at berichtete). In Installationen und Rekonstruktionen stellt es die tausendjährige Geschichte der Juden in Polen dar. Eine Geschichte, die nach dem Willen der Nazis mit dem Holocaust enden sollte.

Niemals vertrieben

Dass dies verhindert wurde, dazu trugen auch Polen bei, trotz des weitverbreiteten und tief verwurzelten Antisemitismus. Die Ausstellung im Polin-Museum endet denn auch nicht mit dem Holocaust, sondern mit dem jüdischen Leben nach 1945 bis in die Gegenwart. Programmdirektorin Barbara Kirshenblatt-Gimblett weist darauf hin, dass bis zum Zweiten Weltkrieg Juden niemals aus Polen vertrieben worden seien. Für sie ist Polin auch ein Museum der Geschichte Polens. Was sie damit meint: Bis heute empfinden viele Polen Geschichte und Leben der polnischen Juden als etwas quasi Exterritoriales, das mit ihrer eigenen Geschichte nichts zu tun habe.

Agnieszka Markiewicz, Direktorin des Warschauer Forums für Dialog zwischen den Nationen, sieht den Hauptgrund dafür im Nachwirken von fast 50 Jahren kommunistischer Propaganda. Diese habe den Charakter des Holocaust als systematische Vernichtung der Juden verschleiert.

Der zweite Grund sei das eigene Leid der Polen unter den Nazis: "Es ist eine bequeme Position, nur Opfer zu sein." Das von Markiewicz geleitete Forum ist die größte Nichtregierungsorganisation für polnisch-jüdischen Dialog. Seit 15 Jahren veranstaltet es bewusstseinsbildende Workshops in Schulen polnischer Städte mit einst starkem jüdischem Bevölkerungsanteil.

Keine vollwertigen Landesleute

Wie die Modeunternehmerin Samecka stellt Markiewicz, auch sie Jüdin, fest, unter jungen Polinnen und Polen sei es heute "hip und cool, die eigenen jüdischen Wurzeln zu erkunden". Von sehr vielen Polen würden Juden aber nach wie vor nicht als vollwertige Landsleute anerkannt. 90 Prozent der Polen gehören der katholischen Kirche an, und für die meisten von ihnen sei polnisch gleichbedeutend mit katholisch.

Größte Herausforderung ihres Dialogprojektes sei es, "das Odium des Wortes Jude zu beseitigen", sagt Markiewicz. Weil es von Antisemiten als Schimpfwort verwendet werde, sprächen Wohlmeinende lieber von "jüdischen Bürgern" oder "jüdischen Mitmenschen" statt von Juden.

Dem begegnet Antonina Samecka mit ihrem Modedesign, das Jüdischsein als lockere Selbstverständlichkeit in den Alltag trägt, fast spielerisch und in typisch jüdischer Selbstironie: Oy oy oy my boy is goy. "Wir zeigen, dass Jüdischsein cool und sexy ist", sagt Samecka. Das sieht bemerkenswerterweise der polnische Oberrabbiner Michael Schudrich ganz ähnlich. Er nannte den Erfolg von Risk ein Symbol der Rückkehr des jüdischen Lebens in Polen.

Krakaus boomende Szene

Hip, cool und sexy wirkt auch die boomende jüdische Kulturszene in Krakau, Polens zweitgrößter Stadt, auf immer mehr Menschen. Das jüdische Viertel Kazimierz hat sich von einem heruntergekommenen, übel beleumundeten Quartier zum Touristenmagneten entwickelt. Das Jüdische Kulturfestival, 1988 von Nichtjuden initiiert, ist inzwischen eines der größten dieser Art weltweit.

Im Jewish Community Center in Kazimierz herrscht reges Kommen und Gehen, Jiddisch-Kurse werden immer beliebter. Rund 200 Mitglieder zählt die jüdische Gemeinde in Krakau. Vor 1939 waren ein Viertel der Bevölkerung Krakaus Juden, etwa 65.000.

Jüdisches Leben fast ohne Juden: Das hat Kazimierz von Kritikern einer allzu kommerziellen Vermarktung den Beinamen Jewish Parc eingetragen. Jakub Nowakowski, Direktor des Jüdischen Museums Galizien, sieht das gelassen: Der Boom habe die Sanierung des Viertels erst ermöglicht. Und das jüdische Wiederaufleben ("revival") in Polen gelinge nur mit der aktiven Beteiligung der Juden. Deren wichtigste Aufgabe sei es, eine neue Generation von Repräsentanten und Führungspersönlichkeiten aufzubauen. Alle Rabbiner im Nachkriegspolen seien bisher aus dem Ausland gekommen. "Der erste in Polen geborene Rabbi - das wird ein großes Ereignis werden." (DER STANDARD, 15.11.2014)