Die Sanktionen gegen Russland waren falsch, sagt Heiko Thieme. Damit der Konflikt nicht eskaliert, müsse man reden, reden, reden.

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STANDARD: Wie lässt sich das Aktienjahr bisher zusammenfassen?

Thieme: Mit dem Stichwort Volatilität. Das Jahr war chancenreich, wenn man den Mut hatte, in den Korrekturphasen zu kaufen. Nach dem schwachen Jänner war für mich statistisch gesehen klar, dass das Jahr nicht so einfach wird. Wenn der Jänner schwach wird, ist das Gesamtjahr statistisch gesehen nämlich nicht so positiv einzuschätzen. Aber das Jahr wird im Plus abschließen. Aber im einstelligen Bereich und nicht im doppelstelligen Bereich.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Lage am österreichischen Kapitalmarkt?

Thieme: Die Wiener Börse steht ob der Ost-Komponenten stark unter Druck. Aber ich glaube, der Markt müsste interessant sein, weil wir standen 2007 bei 5000 Punkten und jetzt stehen wir bei rund 2200. Wenn man mehr als 50 Prozent im Minus liegt, dann wird sich der Markt irgendwann erholen. In den nächsten Jahren wird Österreich wieder ein attraktiver Markt sein.

STANDARD: Aufgrund der ausgeweiteten Geldpolitik durch die EZB wird oft gesagt, Europa droht das japanische Schicksal. Wie sehen Sie die Lage?

Thieme: Was die EZB getan hat, ist die richtige Strategie, weil es auch keine Alternative gibt. Was Mario Draghi (EZB-Chef; Anm.) macht, ist pauschal gesagt die Blaupause von Amerika, auch Japan setzt auf die Strategie, nachdem man gemerkt hat, dass zu kleine Aktionen nicht helfen. Gelddrucken per se verursacht keine Inflation. Es kommt ja darauf an, was mit der ausgeweiteten Geldmenge gemacht wird. Gebe ich jedem Bürger 1000 Euro, ist das nicht inflationär. Legt man diese 1000 Euro in die Schatulle und legt vielleicht noch 100 Euro dazu, dann kann die Wirtschaft sogar in eine rezessive Phase kommen, ohne dass die erweiterte Geldmenge etwas dazu beiträgt. Nur wenn derjenige, der die 1000 Euro nimmt und nicht nur ausgibt, sondern noch "leveraged" und mehr ausgibt und damit mehr Nachfrage kreiert als Waren da sind, dann ist es inflationär. Dieses Thema haben wir derzeit aber nicht.

STANDARD: Warum horten die Banken das billige Geld und geben es nicht in die Wirtschaft weiter?

Thieme: Banken beschäftigen sich zu sehr mit sich selbst und betreiben Eigenhandel, anstatt Gelder weiterzuverleihen. Die Ankurbelung von Investitionen wäre positiv. Die große Frage ist, ob wir es schaffen, eine Superinflation zu vermeiden, wenn wir den exzessiven Geldfluss wieder abbauen. Oder laufen wird dann in den totalen Abgrund, der jeden bisherigen Crash zu einem Osterspaziergang erscheinen lässt? Man weiß um diese Gefahr Bescheid. Ich bin zuversichtlich, dass es eine Lösung geben wird. Mich bringt das immer auch zu der Frage, ob wir Banken so noch brauchen?

STANDARD: Brauchen wir sie?

Thieme: Ich überlege mir oft, ob es nicht besser wäre, wenn die Regierung sagt, wenn jemand einen Kredit möchte, soll er einen Antrag stellen. Wird der Antrag auf mehr als einer Seite zusammengefasst, wird er abgelehnt, weil so viel nicht gelesen werden kann. Wird er auf einer halben Seite zusammengefasst, steigt die Chance - wenn er nicht exzessiv hoch ist - auf Genehmigung. Bei einer Viertelseite liegt die Chance bei 75 Prozent. Bei noch weniger soll der Kredit fix sein.

STANDARD: Wer trägt denn dabei das Risiko?

Thieme: Der Kreditnehmer. Er bekommt das Geld, muss aber unterschreiben, dass er mit seinem gesamten Vermögen für die Rückzahlung des Kredits haftet. Dann wird auch klar, dass die Leute für dieses Geld verantwortlich sind. In der Bank werden Sparer derzeit betrogen und bestraft, wenn sie Einlagen bringen.

STANDARD: Damit Sparer nicht mehr bestraft werden, braucht es höhere Zinsen. Die Amerikaner haben eine Erhöhung des Leitzinses schon in Aussicht gestellt. Wann erwarten Sie diese und in welchem Ausmaß?

Thieme: Bevor das passiert, muss erst gesehen werden, dass das Wirtschaftswachstum kontinuierlich ist und die Arbeitslosenquote weiter sinkt. Erst dann wird Frau Yellen (Janet, Fed-Chefin; Anm.) die kurzfristigen Zinsen leicht anziehen. Frühestens wird das im Frühjahr passieren, was meines Erachtens aber zu früh wäre. Innerhalb der nächsten zwölf Monate ist von so einem Schritt aber auszugehen. Dann wird der kurzfristige Zinssatz unter einem Prozent liegen, aber über dem heutigen Satz von null bis 0,25 Prozent.

STANDARD: Heuer sind auch die geopolitischen Risiken massiv gestiegen ...

Thieme: Richtig. Wir haben heute kein wirtschaftliches oder finanzielles Risiko mehr. Wir haben einzig und allein ein geopolitisches Risiko, und das ist enorm. Ich glaube, die Sanktionen gegen Russland sind falsch. Russland ist kein Gegner, sondern muss als Partner gesehen werden. In Europa hat man den Fehler gemacht, die Ukraine vor die Wahl zu stellen: entweder zu uns oder zu Russland. Wir hätten sagen müssen, dass wir das Tor Europa öffnen, wenn sie das Tor Russland nicht schließen. Denn Russland ist mit gut 140 Millionen Menschen der größte Bevölkerungsblock, den wir in Europa haben, und von den Rohstoffen das wichtigste Land. Das zu ignorieren wäre fatal. Daher muss eines getan werden: reden, reden, reden. Auch der Nahe Osten bleibt ein Pulverfass. Man muss hier langfristig denken.

STANDARD: Wie langfristig denken Sie, wenn es um den Finanzmarkt geht?

Thieme: Sehr langfristig. Mindestens bis 2030 und sogar bis zum Ende des Jahrhunderts.

STANDARD: Wo steht der Dow Jones 2030?

Thieme: Der Dow Jones wird noch vor 2030 die 30.000er-Marke erreicht haben, auch die 40.000er-Marke ist denkbar. Warum? Von 1896 bis heute haben wir an der Börse im Schnitt fünf bis sechs Prozent Zuwachs gesehen. Nehmen wir nur fünf Prozent, das heißt eine Verdoppelung alle 15 Jahre. Wir sind knapp vor 2015 - das heißt ich verdopple den Index von dort, wo er gerade steht. Bei dieser Prognose gibt es aber eine Gefahr, weil sie zum derzeitigen Höchststand ansetzt. Es kann also auch etwas weniger sein, aber in dieser Größenordnung ist es denkbar und würde nur einen jährlichen Index-Anstieg von 3,6 Prozent bedeuten. Die Börse steigt immer wieder. Man muss jetzt kaufen, damit man die Weihnachtsgans schlachten kann.

STANDARD: Und was erwartet uns in den kommenden Wochen?

Thieme: Im November beginnt die stärkste Sechsmonatsphase in den USA. Hätte man 1950 mit 10.000 US-Dollar angefangen und immer den Dow Jones ab November gekauft und Ende April alles glattgestellt, dann hätte man aus 10.000 US-Dollar über 800.000 Dollar gemacht. Wer zwischen Mai und Oktober investierte, weist nach 65 Jahren einen leichten Verlust auf. Der 16. Oktober war heuer der Tiefststand - wer sich getraut hat, in dieser Korrektur zu kaufen, hat schon gewonnen. Der Markt wird bis Ende April spürbar höher sein als heute. Von den Themen her setze ich auf Energie, Technologie, Konsum und Silber zur Beimischung.

STANDARD: Sehen Sie im Bereich Technologie bereits eine Blase?

Thieme: Es gibt heiße Luft, aber noch keine Blase. Amazon muss beweisen, dass sie Geld verdienen können. Auch Alibaba muss trotz Rekordumsätzen vor wenigen Tagen noch zeigen, dass es sie in einem Jahrzehnt noch gibt. Unternehmen, die heute noch in der Garage arbeiten, werden uns zweifelsohne treiben. Da kann gut mitverdient werden. Der Anleger muss hier am Ball bleiben. (Bettina Pfluger, DER STANDARD, 14.11.2014)