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Ein Erfolgsmodell, das auf dem Unglück anderer Leute aufbaut: Jake Gyllenhaal liefert als Sensationsreporter im Thriller "Nightcrawler" ein Bravourstück ab.

Foto: AP/Chuck Zlotnick

Wien - Alles ist eine Frage der Geschwindigkeit in diesem Film, doch jeder einzelne Schritt von Lou Bloom ist wohldurchdacht. Auch wenn sich die Ereignisse überschlagen, der Held in immer kürzeren Abständen auf Veränderungen reagieren muss, verliert er nie die Orientierung und erfasst die Lage augenblicklich. Er ist ein eloquenter Redner, ein gerissener Denker, ein kaltblütiger Täter.

Obwohl in ihm noch derselbe Kleinganove steckt, der vor wenigen Tagen seine gestohlenen Kanaldeckel und Kupferdrähte für ein paar Dollar auf einer Baustelle losgeworden ist, plant er seine Karriere generalstabsmäßig. Denn Bloom hat bei einem Unfall Blut geleckt: Das Opfer, das unter einem Auto hervorgezerrt wurde, ließ ihn als Augenzeugen zwar kalt, die Fernsehkameras, die wie Geier auf die Leiche starrten, weckten in ihm hingegen den Jagdinstinkt. Und nun ist Bloom, ausgestattet mit einem Polizeifunkscanner und seiner ersten Videokamera, selbst zu einem "Nightcrawler" von Los Angeles geworden, um anfänglich Unfälle, bald aber grausame Verbrechen der Nacht zu filmen und die Aufnahmen einem Nachrichtensender zu verkaufen.

Unterwegs als Ein-Mann-Kamerateam bietet Lou Bloom tatsächlich eine One-Man-Show: Jake Gyllenhaal liefert mit der Verkörperung des getriebenen Jägers ein Bravourstück, präsentiert einen mit jeder Faser von Besessenheit gezeichneten Charakter. Bloom geht für ein gutes, also verkäufliches Bild buchstäblich über Leichen, und der Erfolg gibt ihm recht. Das Wissen, weshalb man ein Ziel verfolge, sei mindestens so wichtig wie das Ziel selbst, meint er gegenüber der Nachrichtenchefin Nina (Rene Russo) und beginnt geschickt, das Arbeitsverhältnis in ein Abhängigkeitsverhältnis zu verwandeln. Denn bald sind seine Bilder für den unter Quotendruck stehenden Sender so wichtig, dass Bloom die Bedingungen und den Preis festlegt.

Über Medienschelte hinaus

"Ein Freund ist ein Geschenk, das man sich selbst macht." Der Zynismus Blooms deckt sich mit jenem des Boulevardfernsehens, das bei der Auswahl der drastischen Bilder immer höhere Ansprüche stellen muss. Nightcrawler geht auch hier über das übliche Maß an Medienschelte hinaus, indem er zeigt, wie sich Wirkkraft und Eskalation verselbstständigen. Welche Bilder aus dem Nachrichtenstudio noch gesendet werden können, ist hier deshalb auch keine moralische, sondern nur noch eine juristische Frage.

In seinem Regiedebüt entwirft der Drehbuchautor Dan Gilroy (The Bourne Legacy) nicht nur das Psychogramm eines Psychopathen, sondern zugleich eines Mannes, dessen oberstes Gebot die eigene Flexibilität ist, der mit steigendem Erfolg sein Equipment aufrüstet und einen Angestellten engagiert, von dem er unbedingten Gehorsam erwartet. Lou Bloom ist die Inkarnation des modernen Aufsteigers, weil er sich nicht nur an die ökonomischen Bedingungen anzupassen weiß, sondern sich diese auch zu eigen macht. Er ist ein Freelancer, der das Angebot einer freundlichen Übernahme durch einen Kollegen ablehnt, weil er die Gesetze des Marktes verinnerlicht hat. Seine Business-Sprache spiegelt perfekt dessen Spielregeln wider: Nur wer sich selbst verkaufen kann, verkauft auch seine Ware.

Während Bloom im Nachrichtenstudio selbstgefällig die ausgewählte Komposition seiner Bilder lobt, stellt Nightcrawler nicht nur ihre räudige Ästhetik aus, sondern übernimmt Robert Elswitts subtile Kameraführung zunehmend Blooms voyeuristische Perspektive. So wird man auch als Zuschauer hineingezogen in das Spektakel des Elends, kriecht man wie Bloom förmlich über die Tatorte. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis man beinahe Verständnis dafür aufbringt, dass Bloom sich mit der Realität nicht mehr begnügt und sie stattdessen für seine Zwecke zu manipulieren beginnt.

Wer keine Schwächen hat, kann schließlich auch beim Verhör durch die Polizei keine zeigen. "Ich sage gern: Wer mich sieht, hat den schlimmsten Tag seines Lebens", meint der Meister der Selbstinszenierung und flirtet mit der Überwachungskamera. (Michael Pekler, DER STANDARD, 13.11.2014)