Stärker als die heutigen europäischen politischen Entscheidungen und Entwicklungen sind die in den Staaten des Nahen Ostens von historischen Erfahrungen und religiösen Traditionen abhängig. Dem durchschnittlich interessierten politischen Beobachter in Österreich oder Deutschland ist das nicht bewusst. So fragt er sich: Warum sind die Flaggen der IS schwarz? Die Farbe des Islams ist doch grün.

Aber, die Farbe der sunnitischen Dynastie der Abbasiden (750-1258) war schwarz. Und die IS hat das Ziel, zumindest die Kernlande dieses Kalifats wiederherzustellen. Hinter vielen der nahöstlichen Konflikte stecken also derartige Traditionen oder auch erfundene Traditionen. Gudrun Harrer kennt sie alle und weiß sie genau einzuschätzen. Sie kann dafür auf eine gründliche akademische Ausbildung zurückgreifen. Ihr nicht ohne Selbstironie geschriebenes erstes Kapitel zur Art der Umschrift des Arabischen in den Printmedien macht das deutlich. Vor allem aber hat sie durch zwei Jahrzehnte die nahöstliche Szene beobachtet und als Journalistin und Diplomatin aus nächster Nähe erlebt. Sie kann aus reichen Erfahrungen schöpfen. Vieles ist aber auch aus ihrer langjährigen Arbeit zur Proliferation von Atomwaffen in den Nahöstlichen Irrgarten eingeflossen.

Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten

Das Buch analysiert in 20 Kapiteln verschiedene regionale und thematische Schwerpunkte. Fünf von ihnen erläutern die Entwicklungen im Irak von 1990 bis heute. Zu Recht im Vordergrund steht dabei der Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, die Grundlage der aktuellen, dramatischen Ereignisse. Deutlich werden hier ihr weiter wie tiefer Einblick in die Hintergründe und persönlichen Animositäten zwischen den wichtigsten Akteuren auf irakischer, aber auch amerikanischer Seite. Dabei ist besonders der Abschnitt über den Schiitenführer Muqtada al-Sadr hervorzuheben, der als Pflichtlektüre in die Leselisten von zukünftigen Diplomaten wie angehenden Nahostwissenschaftern aufgenommen werden sollte.

Wie hier die Organisationsstrukturen der schiitischen Geistlichkeit, die Bedeutung von transnationalen Gelehrtenclans und von Verschwörungstheorien konzis, vollständig und höchst lesbar zusammengeführt werden, ist vorbildhaft. Der Beitrag sagt übrigens über die US-Besatzungspolitik und das Auftreten ihrer Vertreter mehr aus als seitenlange politische Analysen.

Ein anderer Schwerpunkt behandelt die Rolle der Muslimbruderschaft in Ägypten und Syrien und als Vorläufer radikal-islamischer Organisationen im Nahen Osten in seiner Gesamtheit. Die Autorin stellt dem die Bedeutung des wahhabitischen Islams auf der Arabischen Halbinsel gegenüber. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen zur saudischen Haltung gegenüber der IS und anderen radikal-islamischen Gruppen. Hier verortet sie dann auch ihre kenntnisreiche Analyse der Entscheidungsstrukturen der Nachfolge des saudischen Königs Abdullah.

Erinnerungskultur nahöstlicher Gesellschaften

Natürlich geht es auch um die katastrophale Situation in Syrien, wobei Harrer sich in einem bemerkenswerten Text mit den religiösen Vorstellungen der syrischen Alawiten im Unterschied zu den Aleviten in der Türkei auseinandersetzt. Der blutige Konflikt zwischen Muslimbrüdern und dem Regime der Familie Assad findet hier seinen Platz. Zugleich spricht sie die Rolle der europäischen Kolonialmächte an, im syrischen Fall Frankreichs. Auch an diesem Beispiel wird die Bedeutung der Erinnerungskultur nahöstlicher Gesellschaften deutlich.

Ein ausführliches Thema ist ferner der Konflikt um die iranischen und irakischen Aktivitäten um den Bau von Atomreaktoren und das Problem der damit verbundenen Entwicklung von atomaren Waffen. Dabei wird auch auf die entsprechenden israelischen Unternehmungen eingegangen. Der Leser erhält einen Einblick in die Machtverhältnisse im Iran während der Präsidentschaft von Ahmadi-Nejad ebenso wie über die kontraproduktiven Konsequenzen der Vernichtung des irakischen Atomreaktors Osirak durch israelische Kampfjets.

Das Buch enthält eine Vielzahl von Informationen, die dem durchschnittlichen politischen Leser so neu sein werden wie manchen regionalwissenschaftlichen Fachleuten. Es ist in gut lesbarem Stil und nicht ohne Ironie, aber mit Engagement geschrieben. Nach der Lektüre ist man gut informiert und fühlt sich in der Lage, die täglichen Horrormeldungen auf eine seriösere Weise einzuordnen. Angesichts aller Sorge um die Entwicklungen in der Region kommt man schlussendlich zum Ergebnis, dass sich nicht nur im Nahen Osten inkompetente und intrigante Politiker finden lassen, sondern auch anderswo. Und das ist irgendwie doch auch tröstlich. (Peter Heine, DER STANDARD, 11.10.2014)