STANDARD: Sie sind ein großer Kritiker der Welthandelsorganisation, die quasi die Handelspolitik der ganzen Welt reguliert, 160 Länder sind dabei. Was stört Sie an ihr?
Chang: Sie ist vor allem bei der Bekämpfung von Armut alles andere als hilfreich. Die WTO gibt es seit 1995, seither ist es für Entwicklungsländer schwieriger geworden, ihre eigene Wirtschaft zu schützen und ausländische Investitionen zu regulieren. Die Länder brauchen das aber in den frühen Stadien ihrer Entwicklung. Das hat dazu geführt, dass diese Länder langsamer gewachsen und schwach industrialisiert sind. Viele Länder sind zu freiem Handel gezwungen worden, das hat große Teile der heimischen Industrie ausgelöscht.
STANDARD: Laut vieler Ihrer Ökonomenkollegen ist aber gerade Wettbewerb mit anderen Ländern wichtig, damit sich arme Länder entwickeln.
Chang: Viele afrikanische und lateinamerikanische Länder sind im Gegenzug für monetäre Hilfen von IWF und Weltbank dazu gezwungen worden, sich dem Ausland zu öffnen. Viele Industrien sind verschwunden. Ja, man kann sagen, die waren sowieso ineffizient. Aber sie hätten sich entwickeln können. Nehmen Sie Japan als Beispiel her. 1955 haben alle Firmen in Japan in Summe 70.000 Autos hergestellt, General Motors alleine hat 8,5 Millionen Stück produziert. Viele dachten, es sei lächerlich, die schwache japanische Industrie zu schützen. 30, 40 Jahre später haben sie die Welt erobert.
STANDARD: Regierungen scheinen das anders zu sehen. Vietnam verhandelt mit den USA über ein Freihandelsabkommen, Pakistan will mit Tisa den Dienstleistungssektor öffnen.
Chang: Ich glaube nicht, dass sie davon profitieren werden. Wir brauchen einen asymmetrischen Schutz. Ärmere Länder sollen ihre Wirtschaft stärker schützen dürfen als reichere. Es gibt wenige Beispiele für Länder, die mit Freihandel reich wurden. Großbritannien war im 18. Jahrhundert protektionistisch, die USA, Deutschland und Schweden waren es im 19. Jahrhundert, genau wie die Länder Ostasiens, Frankreich oder Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg. Ausnahmen sind vielleicht kleine Länder wie Hongkong, die Niederlande oder die Schweiz. Wir müssen das internationale Handelssystem reformieren. Länder sollten sich erst öffnen, wenn sie aufgeholt haben.
STANDARD: Dem Ökonomen Dani Rodrik bereitet es Kopfschmerzen, dass arme Länder heute früh auf Dienstleistungen umsteigen, weil die technologisierte Industrie keine Jobs liefert. Hat er Recht?
Chang: Gewissermaßen ja. Es wird schwieriger sich zu industrialisieren, es ist aber nicht unmöglich. Taiwan und Südkorea haben es auch geschafft. Es gibt immer noch viele Branchen, in denen man viele Arbeiter braucht und nicht so viele Maschinen. Die schwache Industrialisierung in vielen Ländern liegt aber auch an der Wirtschaftspolitik. Brasilien hat etwa den größten Industriesektor Lateinamerikas. Weil man in den letzten 30 Jahren nur auf die Kontrolle der Inflation geschaut hat, ist der Anteil der Industrie an der Wirtschaftsleistung von 28 Prozent auf elf Prozent geschrumpft. Das liegt an keinen Technologien.
STANDARD: In einem Ihrer Bücher schreiben Sie, die Waschmaschine habe unser Leben stärker verändert als das Internet. Sind Sie sich sicher?
Chang: Das war ein bewusst provokantes Statement. Ich will damit nur sagen: Beurteilt Innovationen nicht mit einem Blick auf das hier und jetzt. Die Waschmaschine hat mit anderen Haushaltsgeräten unser Leben über die letzten 100 Jahre massiv verändert. Sie hat die Hausarbeit massiv reduziert, Frauen konnten arbeiten gehen, bekamen weniger Kinder, für die war dann mehr Geld da, was ihnen Zugang zu einer besseren Ausbildung verschaffte, und so weiter. Das Internet wird die Gesellschaft in 100 Jahren auch stark verändert haben. Auch heute hat sich schon einiges getan, diesen großen Einfluss wie bei der Waschmaschine sehe ich aber noch nicht.
STANDARD: Unter Historikern gibt es die Theorie, dass der Finanzsektor dann blüht, wenn der Kapitalismus träge wird und keiner mehr weiß, was man mit dem Geld sonst anfangen könnte. Ist da etwas dran?
Chang: Das ist sicher nicht ganz unrichtig. Es könnte aber auch anders herumgehen. Investoren wollen heute sofort Profite, sie denken sehr kurzfristig. In Großbritannien ist eine Aktie vor 50 Jahren im Schnitt fünf Jahre lang gehalten worden. Heute ist der Schnitt ein Jahr. Das übt Druck auf Manager aus. Wer langfristig investiert, sieht die Profite oft erst in fünf oder zehn Jahren. Darunter leiden vor allem Investitionen in Forschung und Entwicklung. Dieses kurzfristige Denken und der große Einfluss des Finanzsektors behindern also Innovationen.
STANDARD: Ist der globale Finanzsektor heute zu groß?
Chang: Ja, in den USA, Großbritannien und vielen anderen Ländern ist er viel zu groß. Das ist nicht notwendig. Er macht die Leute, die dort arbeiten, reich, hat aber in Summe einen negativen Einfluss.
STANDARD: Wenn er zu groß ist und insgesamt mehr Nach- als Vorteile mit sich bringt: Was kann man tun?
Chang: Der große Finanzsektor ist kein Naturphänomen. Man kann ihn, einfach gesagt, zusammenschrumpfen. Er ist wegen der Deregulierung in den 1980ern und 1990ern stark gewachsen. Wenn man die Regulierung wieder anzieht und von den Banken höhere EIgenkapitalquoten verlangt, dann schrumpft der Sektor ganz von alleine.
STANDARD: Europa kämpft noch mit der Krise. Ist sie in den USA und Großbritannien vorbei?
Chang: Das Einkommen pro Kopf ist in den USA nur leicht höher als vor der Krise, in Großbritannien sogar darunter. Die ohnehin schwache Erholung ist von Blasen getrieben. US-Aktien sind stark überbewertet.
STANDARD: Die Politik hat also nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt?
Chang: Leider nicht. Das ist aber ein typisches Muster. In den 1990ern gab es eine Finanzkrise in Asien, die auch Europa und die USA getroffen hat. Damals gab es große Diskussionen über eine Reform des Finanzwesens. Das Thema ist dann aber wieder verschwunden. Dasselbe passiert jetzt. Schneller als man schaut steht man wieder vor der nächsten Krise. Stellen Sie sich vor, die Elektrizitätsindustrie würde einen großen Crash verursachen. Es würde sofort Änderungen und neue Regeln geben. Natürlich hat sich etwas getan in der Regulierung des Finanzsektors. Aber selbst Leute, die dem Sektor nahe stehen, sagen, dass das nicht reicht.
STANDARD: Sie machen auch Ökonomen für unsere Probleme verantwortlich.
Chang: Viele Ökonomen haben die Finanzblasen der Vergangenheit verteidigt und für Deregulierung argumentiert, weil Märkte ja rational seien und Blasen nicht existieren könnten. Sie sind uns Antworten schuldig. (Andreas Sator, DER STANDARD, 12.11.2014)