Zwischen kindlicher Unternehmungslust und der Rolle des männlichen Familienältesten hin und her gerissen: Ramasan Minkailov als tschetschenischer Flüchtlingsbub in Sudabeh Mortezais Spielfilm "Macondo".

Foto: Filmladen

Wien - Kinder würden wahrscheinlich alles einkaufen, was ihnen verlockend erscheint. Wenn Ramasan mit seinen jüngeren Schwestern in den Supermarkt geht, liegt es an ihm, die beiden in Zaum zu halten. Die Süßigkeiten, die im Wagerl landen, müssen zurück ins Regal, denn dafür fehlt das Geld. Ramasan ist selbst erst elf, aber als ältestes männliches Familienmitglied - der Vater ist im Krieg in Tschetschenien gefallen - hat er schon einige verantwortungsvolle Aufgaben übernommen.

Der Spielraum, der zwischen dieser sozialen Rolle des Buben und seiner Lust am Austesten von Grenzen, seiner kindlichen Natur liegt, er ist für Sudabeh Mortezais Spielfilmdebüt Macondo, das vergangene Woche den Wiener Filmpreis und den Erste-Preis erhalten hat, entscheidend. Während ein österreichisches Kind relativ bedenkenlos Unfug treiben darf, kann Ramasans Fehlverhalten gravierende Folgen haben. Gemeinsam mit seiner Mutter warten er und seine Geschwister auf einen positiven Asylbescheid. Wenn er sich in dem laufenden Verfahren etwas zuschulden kommen lässt, dann schadet er nicht nur sich allein.

Auf eine solche dramatische Zuspitzung, die in Milieufilmen mit Flüchtlingen gern einmal gesucht wird, lässt es Macondo erfreulicherweise nicht ankommen. Mortezai spielt die Prekarität der familiären Situation nicht herunter, sie bauscht sie aber nicht auf. Es werden kaum Stereotype forciert, der Film bevorzugt beschreibende Beobachtungen, die den Figuren Raum und den einen oder anderen Widerspruch lassen.

Überhaupt ist es der maßvolle, ausgeglichene Tonfall, der in Macondo überrascht. Staatseinrichtungen werden sehr diplomatisch gezeigt. Und die Siedlung für Flüchtlinge in Wien-Simmering, die dem Film den Titel gibt, ist kein Ort der Gewalt oder Hoffnungslosigkeit, sondern ein offenes, helles Areal für Menschen mit diversen kulturellen Hintergründen. Rundherum sieht man die Umrisse eines wenig fotografierten Wien: Container vom Hafen, Baustellen, Gestrüpp, Geröll.

Der fehlende Vater

Auch ein kleines Waldstück, in dem sich Isa (Aslan Elbiev) bevorzugt aufhält, ist ein treffend gesetzter Zwischenraum. Für Ramasan erhält der neuangereiste Freund seines Vaters eine wichtige Funktion, um das Selbstverständnis zu überprüfen. Das innere Ringen mit der abhandengekommenen Vaterfigur ist allerdings einer der zu durchschaubaren Konflikte des Films. Auch das Symbol einer stehengebliebenen Uhr wirkt eher platt.

Umgekehrt erinnert dieser Ansatz der Identitätsbestimmung an Mortezais Dokumentarfilme Children of the Prophet und Im Bazar der Geschlechter, in denen sie sich mit den Widersprüchen der iranischen Gesellschaft beschäftigt hat. Auch die Wurzel zu Macondo, ihrem Blick auf die muslimische Welt der Exiltschetschenen liegt im Dokumentarischen. Eine diesbezügliche Recherche ging dem Film voran. An der etwas rohen, wenig stilisierten Inszenierung kann man den Ansatz auch in den Bildern noch festmachen.

Ramasan bleibt Orientierungspunkt, an seinen Rücken heftet sich die Kamera, seinen Blick teilt sie. Und mit dem jungen Darsteller Ramasan Minkailov hat Macondo einen schönen Beleg dafür, was ein ausdrucksstarkes, ganz unverfälscht wirkendes Gesicht im Spielfilm zu leisten imstande ist: ein Spiegel für das zu sein, was einer empfindet. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 12.11.2014)