Davor Korić: "Zu jener Zeit galt das Attentat als ein legitimes politisches Mittel."

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Ein Porträt von Gavrilo Princip auf einem Poster in Sarajevo.

Foto: Reuters/DADO RUVIC

Im Gedenkjahr 2014 erschienen viele Publikationen über den Ersten Weltkrieg, in denen die Ereigniskette, die zum Flächenbrand führte, aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und interpretiert wurde, was mitunter auch zu Polarisierungen führte.

Der in Deutschland lebende Journalist Davor Korić hat einen ganz persönlichen Bezug zum Attentat. Sein Großvater Ivan Kranjević war ein Schulfreund von Gavrilo Princip und gehörte zum Kreis der Attentäter. Mit daStandard sprach Korić über die Frage, ob sein Großvater aus heutiger Sicht ein Terrorist oder ein Held war.

daStandard.at: Ihr Großvater Ivan Kranjević gehörte zum Kreis der Attentäter und war ein Schulfreund Gavrilo Princips. In der offiziellen jugoslawischen Darstellung war Gavrilo Princip ein Volksheld. Inzwischen wird er mitunter auch als Terrorist bezeichnet. War Ihr Großvater für Sie aus heutiger Sicht ein Held oder ein Terrorist?

Davor Korić: Diese Frage habe ich mir früher gar nicht gestellt. Erst als ich kürzlich gebeten wurde, einen Text für die deutsche Ausgabe der Kulturzeitschrift "Beton" zu schreiben, habe ich mich mit dieser Perspektive auseinandergesetzt. Da habe ich dann gedacht, es ist tatsächlich ein Terrorakt, denn ein Attentat bedeutet die Tötung eines Menschen. Aber wenn man es im damaligen historischen Kontext betrachtet, war das Attentat ein Versuch, den Repräsentanten einer Macht zu beseitigen, von der das damalige Bosnien und Herzegowina ausgebeutet und terrorisiert wurde.

daStandard.at: Also ein Tyrannenmord?

Korić: Ja, ganz genau so ist es. Zu jener Zeit galt das Attentat als ein legitimes politisches Mittel. In ganz Europa wurden zahlreiche Attentate begangen, weil alle anderen politischen Mittel bereits ausgeschöpft waren. Viele Demonstrationen wurden brutal niedergeschlagen, und Gewalt bringt eben weitere Gewalt hervor. So waren die Umstände damals.

daStandard.at: Die jungen Männer, Freunde Ihres Großvaters, waren bereit, ihr Leben für ihre Ideale zu opfern. Ist das für Sie aus heutiger Sicht nachvollziehbar?

Korić: In diesen Kreisen existierte damals so etwas wie ein Kult der Selbstaufopferung. Wer ein Attentat beging, war sich dessen bewusst, was er tat, und er war auch bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen. Die Attentäter wollten ja anschließend Selbstmord begehen, aber das Zyankali hatte nicht gewirkt. Das heißt, die Attentäter opferten sich im vollen Bewusstsein für ihre Idee.

daStandard.at: Welche Ideen und Ideale waren das?

Korić: Die Mitglieder von Mlada Bosna wollten erreichen, dass ihre Landsleute ein besseres Leben haben. Gavrilo Princip zum Beispiel stammte aus einem Dorf, wo die Menschen sehr arm und unterdrückt waren. Die Menschen lebten wie Vieh, hatten keine Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, sie hatten einfach keine Perspektive, überall herrschte Elend. Princip wollte das verändern. Dann kamen revolutionäre Ideen aus Russland dazu, und man darf ja nicht vergessen, die Attentäter waren noch sehr jung, etwa neunzehn Jahre alt, und sie waren Idealisten.

daStandard.at: Es war in erster Linie also eine soziale Bewegung?

Korić: Ja, die jugoslawische Idee war in erster Linie eine soziale Bewegung, ein Kampf um soziale Gerechtigkeit. Es ging darum, für ein besseres Leben zu kämpfen, also für bessere Lebensbedingungen. Es ist traurig, dass diese Idee inzwischen gescheitert ist, denn dahinter stand der Wunsch nach einer besseren Gesellschaft, im Rahmen eines jugoslawischen Projekts.

daStandard.at: Als Ihr Großvater starb, waren Sie siebzehn Jahre alt. Hatten Sie das Gefühl, dass Ihr Großvater seine Ideen verwirklicht sah? Hatte das reale Jugoslawien etwas mit dem zu tun, wofür er gekämpft hatte?

Korić: Mein Großvater freute sich über die Existenz Jugoslawiens, das steht fest. Er wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn er gesehen hätte, was später daraus geworden ist. Es hätte ihn traurig gemacht zu sehen, dass von dem ursprünglichen Wunsch, in Brüderlichkeit und Einheit zu leben, heute nichts mehr übrig ist, und dass die Gesellschaft nach Religion und nationalen Merkmalen geteilt ist. Wir haben definitiv die Gelegenheit verpasst, eine moderne Gesellschaft zu werden.

daStandard.at: Hat Ihr Großvater im Attentat auch die Dimension des Verbrechens gesehen, also die Tatsache, dass es sich beim Attentat um eine Tötung handelt?

Korić: Nein, das war nicht seine Perspektive. Es war ihm zeitlebens ein Anliegen, sicherzustellen, dass die Fakten und die Umstände des Attentats korrekt wiedergegeben wurden. Aber er ließ sich nicht auf ideologische und moralische Diskussionen darüber ein. Für ihn war es wichtig zu wissen, wofür er gekämpft hatte. In Sarajevo war sogar eine kleine Straße nach ihm benannt.

daStandard.at: Heißt sie noch immer so?

Korić: Nein. Inzwischen wurde sie umbenannt und heißt "Moscheestraße". (Mascha Dabić, daStandard, , 27.10.2014)