Kiew/Moskau/Berlin - Nach den bisher schwersten Auseinandersetzungen seit Beginn der brüchigen Waffenruhe in der Ostukraine wuchs am Sonntag die Sorge vor einem neuen Aufflammen des Konflikts. "Sehr besorgt" über einen neuerlichen Ausbruch der Gewalt zwischen Regierungstruppen und Separatisten hatte sich in der Nacht zum Sonntag etwa die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gezeigt, die die Waffenruhe in den umstrittenen Gebieten überwacht.
Störsignale gegen Drohnen
Die Beobachter der OSZE hätten Artilleriebeschuss der Armee in Donezk und die Mobilisierung mehrerer Konvois mit schweren Waffen - darunter Panzer, Truppentransporter und Haubitzen - in den von Rebellen kontrollierten Gebieten gemeldet. Zudem seien in den vergangenen Tagen die Drohnen, die die Organisation zur Überwachung der Waffenruhe in dem Gebiet nutzt, mit gezielten Störsignalen angegriffen worden.
Ein Sprecher der Separatisten warf hingegen der Regierung in Kiew vor, in Donezk den Einsatz von Brandbomben gegen Wohnviertel genehmigt zu haben. Es handle sich um gezielte Zerstörungen, so Eduard Bassurin, Vizekommandant der Aufständischen in der selbsternannten "Volksrepublik Donezk" am Sonntag in der russischen Staatsagentur Ria Nowosti.
Auch Bassurin bestätigte, dass sich die Kämpfe an der Front in den vergangenen Tagen intensiviert hätten. Die von der OSZE festgestellten Konvois mit schweren Waffen hätten keinen offensiven Charakter, es handle sich um eine notwendige Rotation in den Reihen der Aufständischen. Auch Rebellenvertreter aus der selbsternannten "Volksrepublik Luhansk" berichteten von einem Aufflammen der Kämpfe.
Aufforderung zum Dialog
Die Meldungen von vergangener Woche, wonach auch mehrere russische Panzer wieder die Grenze zur Ukraine überquert hätten, um die Separatisten zu unterstützen, wollte Russlands Außenminister Sergej Lawrow am Wochenende nicht kommentieren. Er habe dazu nicht mehr Informationen als die USA, erklärte er nach einem Treffen mit dem amerikanischen Außenminister John Kerry im Vorfeld des Apec-Gipfels in Peking. Dessen Sprecherin Jen Psaki hatte zuvor erklärt, dass für die Meldung außer Mitteilungen aus Kiew keine unabhängigen Bestätigungen vorlägen.
Zudem forderte Lawrow die USA auf, im Konflikt eine Rolle als Vermittler einzunehmen und zum Dialog zwischen den Kriegsparteien beizutragen. Das wäre "ein Schritt in die richtige Richtung".
"Spiel mit äußerstem Risiko"
Die Spannungen zwischen dem Westen und Russland sind allerdings unverändert hoch. Wie der "Spiegel" unter Berufung auf eine Studie des European Leadership Network in London berichtet, hat es jüngst mehr als 40 militärische Zwischenfälle zwischen Russland und dem Westen gegeben, die zu Toten oder gar zu einer militärischen Auseinandersetzung hätten führen können, so das Magazin, das Deutschlands Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe mit den Worten zitiert, es handle sich bei den Konfrontation um "ein gefährliches Spiel mit äußerstem Risiko".
"Neuer Kalter Krieg"
Angesichts der Spannungen warnten zudem sowohl der ehemalige sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow als auch der frühere US-Außenminister Henry Kissinger vor einem neuen Kalten Krieg. Es habe in den vergangenen Monaten einen "Zusammenbruch des Vertrauens" zwischen Moskau und dem Westen gegeben, sagte Gorbatschow, der sich, so wie auch der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der "Bild am Sonntag", für einen Neuanfang in den Beziehungen aussprach.
US-Regierung mahnt Waffenstillstand ein
Die USA und die Europäische Union beunruhigen Berichte über neue Truppenbewegungen und Kämpfe in der Ostukraine. Die US-Regierung äußerte sich "sehr besorgt" über die jüngsten schweren Gefechte und Berichte über Truppenbewegungen in den ostukrainischen Separatistengebieten. Zugleich rief sie alle Seiten auf, sich strikt an die Waffenstillstandsvereinbarung von Minsk zu halten.
"Jeder Versuch von Separatistenkräften, zusätzliches Territorium in der Ostukraine zu besetzen, wäre ein heftiger Verstoß (...) gegen das Minsker Abkommen", sagte die Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates, Bernadette Meehan, am Sonntag. Sie bekräftigte auch die Aufforderung an Russland, Zusagen von Minsk zu erfüllen, die militärische Versorgung der Rebellen einzustellen und alle Truppen aus der Ukraine abzuziehen.
Mogherini: Putin soll Verantwortung übernehmen
Die neue EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini nannte die jüngsten Truppenbewegungen in den ukrainischen Separatistengebieten eine "sehr besorgniserregende Entwicklung". Es sei unbedingt notwendig, jede neue Eskalation zu vermeiden.
Von dem russischen Präsidenten Wladimir Putin verlangte Mogherini erneut, Verantwortung bei der Lösung des Konflikts zu übernehmen. Russland müsse verhindern, dass weitere Waffen und Kämpfer in die Ostukraine gelangten. Bereits dort operierende Truppen unter russischer Kontrolle müssten zurückgezogen werden.
In der Nacht auf Sonntag kam es in der Rebellenhochburg Donezk zu den heftigsten Gefechten seit der Einigung auf eine Waffenruhe Anfang September. In unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum war Artilleriefeuer zu hören. Die Kämpfe begannen gegen 2.00 Uhr nachts (Ortszeit) und dauerten zunächst unvermindert an. Am Sonntag in der Früh waren die Gefechte weniger intensiv. Prorussische Separatisten warfen den Regierungstruppen die gezielte Zerstörung von Wohnvierteln mit Brandbomben vor.
Obama könnte auf Putin treffen
Heute, Montag, startet der Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec). Am Rande könnte es möglicherweise zu einem informellen Treffen mit dem russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin kommen, der schon seit Sonntag in Peking ist. (red, DER STANDARD, apa, 10.11.2014)