Grünen-Chefin Eva Glawischnig über die Zumutbarkeitsgrenzen: "Dieses ständige Verfügbarsein ist sehr illiberal."

Foto: DER STANDARD/Urban

"Ich habe in der Jugend andere Dinge gemacht: Tabletten und Alkohol und andere Blödsinnigkeiten."

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STANDARD: Die Neos sprechen sich für eine Cannabis-Freigabe aus – und kamen damit gehörig in Erklärungsnot. Bei den Grünen steht die Legalisierung schon lange im Parteiprogramm. Kein Problem damit?

Glawischnig: Die Freigabe ist im Parteiprogramm aus dem Jahr 2001 verankert. Das ist richtig. Nur haben sich in den letzten Jahren die Substanzen – also etwa der THC-Wert – von vielen Pflanzen massiv verändert. Es gibt auch künstliche Cannabinoide. Einfach "Legalize it!" zu rufen ist zu wenig. Es braucht eine viel weiterführende Debatte, nämlich wie wir verhindern können, dass Kinder und Jugendliche süchtig werden und bereits Elfjährige zu rauchen beginnen.

STANDARD: Sie bleiben aber beim Legalisieren?

Glawischnig: Mir persönlich ist die Entkriminalisierung wichtig. Nur ein Beispiel: Es genügt schon die Anzeige nach dem Suchtmittelgesetz, nicht einmal eine Verurteilung ist nötig, schon scheint man ein Leben lang im Suchtmittelregister auf. Daraus folgt, dass einem bestimmte Berufe oder auch Gewerbescheine verwehrt bleiben.

STANDARD: Also raus aus dem Strafgesetz.

Glawischnig: Absolut.

STANDARD: Schon mal selbst gekifft?

Glawischnig: Nein. Ich habe in der Jugend andere Dinge gemacht: Tabletten und Alkohol und andere Blödsinnigkeiten. In Oberkärnten war natürlich Alkohol leichter verfügbar, noch dazu für ein Wirtshauskind.

STANDARD: Die Grünen schnüren gerade ein Sozialpaket, das Ende November im Mittelpunkt des Bundeskongresses stehen soll. Wird dieses Thema auch darin behandelt?

Glawischnig: Nein, es geht um ganz andere Bereiche.

STANDARD: Welche Themen sollen dann enthalten sein?

Glawischnig: Wir wollen uns in verschiedenen politischen Bereichen verbreitern. Bei Korruptionsbekämpfung, Umweltschutz natürlich und Bildung haben wir die öffentliche Diskussion stark mitbestimmt. Das wollen wir jetzt auch in der Sozialpolitik erreichen. Einerseits soll maximale Selbstbestimmung möglich sein, andererseits muss es aber auch einen Rechtsanspruch statt Gnadenakten geben.

STANDARD: Was meinen Sie damit?

Glawischnig: Zum Beispiel im Pflegebereich: Wer von Kärnten nach Wien umgezogen ist, hat keine Ahnung, was mit seinen Eltern passiert, wenn sie einen Schlaganfall haben. Es gibt keine Verlässlichkeit, keine Rechtssicherheit. In jedem Bundesland ist das anders organisiert.

STANDARD: Also bundesweit vereinheitlichen?

Glawischnig: Es braucht in vielen Bereichen einheitliche Standards. Es muss Klarheit geben für Betroffene, damit sie wissen, was auf sie zukommt. Das bedeutet aber nicht automatisch, dass alles im Sozialbereich gratis sein muss.

STANDARD: Das heißt, Pflege soll etwas kosten?

Glawischnig: Es kann etwas kosten. Aber wir haben hier Kosten von bis zu 3.500 Euro im Monat. Das ist eine Belastung, die für kaum jemanden verkraftbar ist. Aber der Leitantrag wird gerade erst ausformuliert. Klar ist: Es müssen alle Lebensphasen planbar und leistbar sein.

STANDARD: Die Pflege ist ja nicht das einzige ...

Glawischnig: ... Kapitel. Sozialpolitik wird im Moment sehr viel aus der Sicht des Sozialversicherungswesens diskutiert und weniger aus der Sicht, in welcher Lebensphase Menschen heikle Schnittstellen haben, wo sich etwas ganz radikal ändert. Bei der Entscheidung, Kinder zu bekommen, ist das schon stärker ins Bewusstsein gerückt, aber die Thematik Pflege ist für viele eine komplette Blackbox. Oder nehmen Sie die Pensionen. Alle bekommen jetzt ihren aktuellen Kontostand genannt. Aber im Wesentlichen hat niemand die Sicherheit, im Alter von 65 ein leistbares Leben führen zu können.

STANDARD: Wie soll es Sicherheit geben?

Glawischnig: Bei den Pensionen ist das lösbar. Im Moment werden die Spitzenpensionen, die Beamtenpensionen, zu 55 Prozent steuerfinanziert. Bei ASVG-Pensionen sind es knapp 21 Prozent. Gilt das ASVG-System als Leitsystem für alle, können junge Menschen wieder Vertrauen in die staatlichen Institutionen haben. Nur darf das nicht erst im Jahr 2048 kommen.

STANDARD: Also ist ein Vorschlag, die Angleichung der Systeme möglichst rasch zu machen? Wann?

Glawischnig: Ja, die Vereinheitlichung ist ein ganz relevanter Punkt. Das muss man abklären mit dem Vertrauensschutz. Aber ein Umbau bis 2024 ist möglich, damit alle in einem System sind.

STANDARD: Geht das in Richtung der lange geforderten Grundpension, die höher als die Ausgleichszulage sein soll?

Glawischnig: Genau. Jeder soll sicher sein können, dass er im Alter eine Grundsicherung hat, egal wie durchbrochen der Erwerbsverlauf, etwa durch Kinder oder Arbeitslosigkeit, war.

STANDARD: Da gibt es die Kritik, dass der Anreiz fehlt, Leistung zu erbringen.

Glawischnig: 850 Euro Grundpension stellen wir uns vor. Das ist die Basis, die jeder bekommen soll. Mein Vorgänger als Grünen-Chef, Alexander Van der Bellen, nennt es das Cappuccino-Prinzip: Die Basis, die jeder bekommt, ist der schwarze Kaffee, die Milch ist jener Beitrag, den man sich durch seine Arbeit zusätzlich verdient hat. Und wer sich noch am privaten Vorsorgemarkt absichern will, bekommt noch das Sahnehäubchen obendrauf.

STANDARD: ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner will jetzt die Zumutbarkeitsgrenzen für Arbeitslose – wie etwa den Arbeitsweg – überprüfen.

Glawischnig: Ich finde die Regelungen jetzt schon extrem restriktiv. Dieses ständige Verfügbarsein ist sehr illiberal. Es werden sehr viele Menschen wechselnd arbeitslos. Ich würde doch eher guten Willen unterstellen, dass Menschen auch Arbeit finden wollen.

STANDARD: Der Grünen-Vorschlag nach einem Urlaubsanspruch für Arbeitslose wurde umgehend abgelehnt. Da steht man allein da, oder?

Glawischnig: Es geht um die Allzeitverpflichtung, also jeden Tag für das Arbeitsmarktservice verfügbar zu sein. Wir wollen, dass man nach 90 Tagen zumindest fünf Tage verschnaufen darf, nicht immer auf dem Sprung sein muss. Ganz ehrlich: Warum sollen diese Leute nicht auch ihre Kinder oder Eltern außerhalb ihres Wohnsitzes besuchen können? Einen Job zu suchen ist hart und keine angenehme Situation.

STANDARD: Letztes Thema: Gerade hat ein Gutachten der Uni Innsbruck Österreichs Modell der Sonderschulen als völkerrechtswidrig bezeichnet. Was tun?

Glawischnig: Dass die Integration von Kindern mit Behinderung ins Regelschulsystem eines unserer großen Anliegen ist, setze ich als bekannt voraus.

STANDARD: Aber in Tirol, wo gerade eine Sonderschule eröffnet wird, sitzen die Grünen in der Regierung.

Glawischnig: Das ist eine Altlast. Der Beschluss für diese Schule ist vor unserer Regierungsbeteiligung erfolgt. Ziel ist aber, es in den Regelschulbetrieb überzuführen.

STANDARD: Warum lässt man Eltern nicht entscheiden, ob ihr Kind eine Sonderschule oder eine inklusive Schule besuchen soll?

Glawischnig: Die Erfahrung zeigt, dass dort, wo das Angebot da ist, die Eltern den inklusiven Unterricht bevorzugen. (Marie-Theres Egyed, Peter Mayr, DER STANDARD, 7.11.2014)