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Anfang der 80er stattet Iwan Sakarschenko dem Moskauer Büro für höhere Studien einen Besuch ab. Dort werden er und seine Kommilitonen von einem streng dreinblickenden Beamten empfangen. In warnendem Tonfall unterrichtet er die Studenten: "Ihr werdet komplett isoliert voneinander leben, Frauen dürfen keine Hosen tragen und es ist euch verboten, auf der Straße zu fotografieren!" Sakarschenko steht kurz vor Antritt seines Auslandssemesters in Pjöngjang und denkt sich: Das Leben dort muss der Horror sein.

Wenige Tage später steigt er am Sunan-Flughafen in den Shuttlebus Richtung Stadt. Sein erster Anblick: Die Frauen auf der Straße tragen Hosen! Erstaunt zieht er seine Kamera hervor, um die Szenerie zu fotografieren. Komisch, niemand hält ihn davon ab. Und die Isolation? Nun ja, die Studenten sind in Einzelzimmern untergebracht.

All dies ereignete sich im Jahr 1982, wie Sakarschenko kürzlich in einem Interview mit einer amerikanischen NGO erzählte. Seitdem ist viel Wasser den Han-Fluss herunter geflossen: Der Russe wurde Journalist bei der Nachrichtenagentur Ria Nowosti, für die er jahrelang als Korea-Korrespondent von beiden Seiten der Halbinsel aus berichtete. Heute noch staunt er regelmäßig verdutzt über Schlagzeilen wie: "Veränderungen in Nordkorea: Frauen dürfen jetzt Hosen tragen!".

Iwan Sakarschenko
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Wieso diese ellenlange Einleitung über nordkoreanische Bekleidungsvorschriften? Weil sie zeigt, wie Journalisten Sklaven ihrer eigenen Stereotype sind. Besonders in der Nordkorea-Berichterstattung halten sich einige allzu hartnäckig. Im Folgenden möchte ich einen der weitverbreiteten Irrtümer aus dem Weg räumen: Nordkorea sei unvorhersehbar, das Regime handle irrational, dessen Diktator sei gar verrückt.

Bitte googlen Sie einmal die entsprechenden Schlagwörter, und Sie werden feststellen: Kaum ein Attribut wird häufiger mit dem nordkoreanischen Regime in Verbindung gebracht. Gleichzeitig könnte kaum eines falscher sein. Nordkorea fährt seit Jahrzehnten einen stabilen Kurs.

Wie der Vater, so der Sohn

Das Land ist zutiefst von konfuzianischen Werten geprägt. Als eines der höchsten Gebote gilt die kindliche Pietät – also die uneingeschränkte Liebe der Kinder zu ihren Eltern. Ins kollektive Gedächtnis hat sich etwa die Sage vom Jungen eingebrannt, dessen Stiefmutter frische Fische liebte. Da diese aber im Winter nicht zu bekommen waren, legte er sich nackt auf einen zugefrorenen Fluss, bis das Eis brach und ihm die Fische in seine Hände fielen. Anders gesagt: Wenn der nordkoreanische Machthaber sein Amt an den Sohn weiterreicht, sind sicherlich keine radikalen Reformen zu erwarten. Vielmehr wird dem Sohn aufgetragen, das Erbe seines Vaters weiterzuführen.

Südkorea handelt unvorhersehbar, nicht umgekehrt

Nordkoreas Handlungen lassen sich schlüssiger verstehen, wenn man sie als unmittelbare Reaktionen auf das Verhalten seiner Nachbarländer begreift. Gehen wir zurück zur Jahrtausendwende, als der damalige liberale Präsident Südkoreas, Kim Dae-jung, seine "Sonnenscheinpolitik" einführte.

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"Sonnenscheinpolitik" auf dem Höhepunkt: Kim Dae-Jungs Gesandter wird 2003 auf dem Flughafen von Pjöngjang mit Blumen empfangen
Foto: EPA/KCNA VIA KNS

Erstmals hat sich Südkorea vom Ziel verabschiedet, sich den Norden einzuverleiben. Stattdessen wollte man mit bilateralen Abkommen die innerkoreanischen Beziehungen stabilisieren und militärische Spannungen abbauen.

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Seoul, Juni 2008: Protest gegen Kim Dae-Jungs "Sonnenscheinpolitik". Auf den Schildern steht "Die Beziehungen zwischen den USA und Südkorea haben Priorität" und "Strategie des Kalten Krieges zwischen den beiden Koreas"
Foto: REUTERS/Jo Yong-Hak

Tatsächlich gab es zu dieser Zeit keinen einzigen nennenswerten militärischen Vorfall auf der koreanischen Halbinsel, stattdessen sprossen wirtschaftliche Kooperationen. Später willigte der Norden gar ein, sein Atomprogramm zu beenden. Ebenso wurde ein gemeinsames Abkommen unterzeichnet, um die seit Ende des Koreakriegs gültige Waffenruhe durch einen permanenten Friedensvertrag zu ersetzen. Eine weitere wirtschaftliche Sonderzone war auf in Planung.

Doch dann kam im Folgejahr der Konservative Lee Myung-bak an die Macht. Er verwarf die abgeschlossenen Vereinbarungen und schlug einen Konfrontationskurs mit dem nördlichen Nachbarn ein. Sanktionen statt wirtschaftliche Zusammenarbeit lautete das Motto.

Zu dieser Zeit also agierte Südkorea als unberechenbarer Faktor. Wie also kann Nordkorea in Zukunft darauf vertrauen, dass einmal geschlossene Verträge auch noch in der nächsten Legislaturperiode bestand haben? In der Berichterstattung aber wird diese Perspektive selten miteinbezogen.

Spekulationen

Zuletzt zeigte sich diese Diskrepanz der Medienrealität ganz besonders bei Kim Jong-uns 40-tägiger Abwesenheit. Wer einen Blick ins Archiv geworfen hätte, würde schnell feststellen, dass solche Perioden der Abwesenheit in der Kim-Famillie nichts Ungewöhnliches sind. Unter den seriösen Nordkorea-Forschern, vor allem aber den in Ostasien ansässigen, schien niemand ernsthafte Zweifel an der Stabilität des Regimes zu haben oder gar Anzeichen eines Machtwechsels zu erkennen.

In den westlichen Medien - die Qualitätspresse mit eingeschlossen - zeigte sich ein geradezu entgegengesetztes Bild: Ein Putsch würde kurz bevorstehen, Kim Jong-uns Schwester sei dabei, die Macht an sich zu reißen, oder Kim liege bereits im künstlichen Koma. Die Hysterie schien ungebremst.

Für Nachrichtenkonsumenten mag es also wirklich eine Überraschung gewesen sein, als der 31-jährige Diktator schließlich wieder aufgetaucht ist. "Als sei nichts geschehen", wie retrospektiv vielfach zu lesen war. Nur: Tatsächlich ist auch nichts geschehen - bis auf eine Knieoperation, versteht sich.

Abschließen möchte ich mit einem Zitat aus dem Far Eastern Economic Review. Die mittlerweile eingestellte Monatszeitschrift wurde 1946 vom Wiener Journalisten Eric Halpern im Schanghaier Exil gegründet. Eine Phrase daraus lautet, frei aus dem Gedächtnis übersetzt: "Was Nord- und Südkorea übereinander schreiben, sollte stets mit Vorsicht genossen werden. Allerdings muss man immer bedenken: Es kann auch wahr sein." (Fabian Kretschmer, derStandard.at, 7.11.2014)