Seit 2009 sind mindestens 45.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken: Über kurz oder lang werde es in Europa zu einem "Aufstand des Gewissens" gegen die Abwehrpolitik kommen, meint Jean Ziegler.

Foto: Matthias Cremer

Ausschnitte des Interviews im Video-Mitschnitt.

Peter Sihorsch

Wien - Immer wieder nimmt der Globalisierungskritiker Jean Ziegler, bekannt wegen seiner Infragestellung der Macht internationaler Konzerne, zur Asylpolitik Stellung. So auch im Vorwort des Buches "Mein Weg vom Kongo nach Europa". Zwischen Widerstand, Flucht und Exil, in dem der aus dem Kongo geflohene Emmanuel Mbolela schildert, wie er der Repression in seiner Heimat entkam und in Europa mit Abwehr konfrontiert wurde. Für Ziegler ist Mbolelas Flucht und die vieler anderer ein Akt der "Notwehr".

STANDARD: Flucht sei Notwehr, schreiben Sie. Abgesehen von den Ursachen einer Flucht: Welchen Angriffen sind Schutzsuchende auf dem Weg nach Europa ausgesetzt?

Ziegler: Unter anderem sind sie mit einem mörderischen Skandal konfrontiert: Vorgestern endete im Mittelmeer die Flüchtlingsrettungsaktion Mare Nostrum von Italiens Marine und wurde durch die Sicherheitsmaßnahme der EU-Grenzschutzagentur Frontex Triton ersetzt. Das ist keine Hilfe im offenen Meer mehr, sondern Abwehr in den Territorialgewässern. Es werden wieder tausende Menschen sterben.

STANDARD: Wie erklären Sie sich, dass die EU, die die Menschenrechte hochhält, so agiert?

Ziegler: Das hat mit der Verlogenheit der Kommissare zu tun - aber auch mit der tiefen ökonomischen Krise in Europa. Xenophobe Parteien sind auf dem Vormarsch. Dass die Regierungen daher davor zurückschrecken, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen, ist psychologisch irgendwo verständlich. Aber es ist unannehmbar, weil damit gegen die Uno-Flüchtlingskonvention von 1952 verstoßen wird, die ein universelles Menschenrecht auf Asyl geschaffen hat. Die EU-Flüchtlingsabwehrstrategie verstößt gegen eine völkerrechtliche Verpflichtung.

STANDARD: Im Mittelmeer sind bereits tausende Menschen ertrunken, großteils wird weggeschaut. Mich erinnert das an Ihr Anprangern des Hungers in der Welt als Verbrechen, das großteils verdrängt werde.

Ziegler: Das stimmt, und dieses Ertrinkenlassen ist unterlassene Hilfeleistung für Menschen in Todesgefahr, was in allen europäischen Staaten unter Strafe steht. Also macht sich die EU nicht nur moralisch, sondern auch strafrechtlich schuldig.

STANDARD: Aber es wird niemand dafür zur Verantwortung gezogen - oder glauben Sie, dass Zuständige dieser Flüchtlingsabwehr einmal vor einem internationalen Tribunal stehen werden?

Ziegler: Durchaus. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie sich die internationale Gerichtsbarkeit seit dem Römischen Statut im Jahr 1998 entwickelt hat, bin ich mir dessen mittelfristig sogar sicher. Denn Straflosigkeit politisch Verantwortlicher wird in der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert.

STANDARD: Sie kritisieren die internationale Macht der Konzerne. Besteht ein Zusammenhang zwischen deren Vorgehen und der europäischen Flüchtlingspolitik?

Ziegler: Sicher ist, dass die staatliche Souveränität der 28 EU-Staaten, und damit der EU insgesamt, von der Macht der Konzerne eingeschränkt wird. Diese sind es, die in Brüssel befehlen. Konzerne sind nicht da, um Menschen vor Hunger und Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu retten, sondern um maximalen Profit zu machen. Das ist eine Diktatur des globalisierten Finanzkapitals, die dazu führt, dass die Schwächsten zur Seite geschoben werden, hungers sterben und an überwindbaren Epidemien zugrunde gehen.

STANDARD: Sie meinen jetzt aber nicht Ebola.

Ziegler: Nein. Ebola wäre überwindbar, wenn es eine medizinische Primärversorgung in Guinea, Liberia und Sierra Leone gäbe. Aber dafür fehlt dort Geld, weil die Länder hochverschuldet sind. Daher breitet sich Ebola aus - und dafür ist diese kannibalische Weltordnung mitverantwortlich.

STANDARD: Zurück zur Flüchtlingspolitik: Haben Sie die Hoffnung, dass es in Europa in absehbarer Zeit zu einer konstruktiven Wende kommt?

Ziegler: Eine konservative Uno-Schätzung geht im Mittelmeer von 45.000 ertrunkenen Flüchtlingen seit 2009 aus. Wenn dort nach dem Ende von Mare Nostrum jetzt wieder tausende Menschen sterben, wird das eines Tages das Bewusstsein der Europäer erreichen, die immerhin in Demokratien mit Informationsfreiheit leben. Das Fürchterliche ist, dass es dazu noch mehrerer Tragödien wie jener 2013 vor Lampedusa mit 352 Toten braucht. Aber wird zu einem Aufstand des Gewissens kommen, da bin ich mir sicher. (INTERVIEW: Irene Brickner, DER STANDARD, 7.11.2014)