Kandidatin Lisa liest aus ihrem Tagebuch: 1A

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Natürlich erfasst den engagierten Fernsehzuschauer bei Ansicht von "Liebes Tagebuch", Dienstag im ORF, der Impuls, stante pede ins hinterste Eck zu eilen und die eigenen Notizbücher und -hefte in die Hand zu nehmen. Genau sieben Minuten hielt das Interesse an der handgeschriebenen Lektüre an. Danach war die Aufmerksamkeit dahin, mehr noch, sie war defizitär, denn so viel ist gewiss: Es ist der Mühe nicht Wert. Und: Jene Protagonistinnen und Protagonisten, die sich ins Fauteuil im Wiener TAG setzen, verdienen Hochachtung. Es gehört schon Mut dazu – und eine nicht zu unterschätzende Fähigkeit zur Selbstironie.

Man könnte es aber auch so sehen: Das Vorlesen des Tagebuchs vor Publikum ist ein weiteres Kapitel in einer an ständiger Selbstentäußerung gewöhnten Zeit. Das macht vor nichts halt. Insofern ist die Ausbeutung des Analogen im Umfeld der totalen Digitalisierung nur logische Konsequenz.

Dass man sich zudem einem nach Fröhlichkeit gierenden Publikum stellt, macht die Sache nicht lustiger. Oft sind die dargebrachten Geschichten für sich gelesen gar nicht so bruhaha – und wollen von jenen, die sie präsentieren, vielleicht auch gar nicht so gehört werden. Jeder Tagebuchschreiber, jede Tagebuchschreiberin wird wissen: So viel zum Lachen steht da drinnen nicht. Gummiherzen werden geschenkt, Liebesschwüre gesprochen und gebrochen, geschrieben mit echtem Herzblut.

In den besten Momenten darf man sich zurücklehnen und genießen, was am Auseinanderklaffen von Aufzeichnung und Erscheinung bei der Performance liegt: Vorleserin Lisas rezitierte Verachtung für den "total unsympathischen zehnjährigen Nichtraucher" – 1A. (Doris Priesching, DER STANDARD, 6.11.2014)