"Es geht doch in erster Linie nicht um den Wohnsitz. Wissen Sie, das ist alles kein Thema, wenn Eltern miteinander können", sagt Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits.

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STANDARD: Ein Gericht hat gerade erstmals entschieden, dass ein Kind von Eltern, die getrennt leben, zwei Hauptwohnsitze haben darf. War das ein guter Urteilsspruch?

Pinterits: Ich wundere mich über die Entscheidung, weil es gesetzlich nicht vorgesehen ist. Es soll jetzt das Kindschafts- und Namensrechtsänderungsgesetz aus dem Jahr 2013 einer Evaluierung unterzogen werden. Das gehört dann aber nicht nur strukturell, sondern auch inhaltlich durchleuchtet. Denn eines zeigt sich deutlich: Die Erwartungen, dass die Verfahren schneller laufen und kindgerechter sind, wurden nicht erfüllt.

STANDARD: Was würde sich konkret durch diese Doppelresidenzen ändern? Etwa die Unterhaltsregelung?

Pinterits: Die Unterhaltsregelung würde sich natürlich ändern. Allerdings ist es ein Fehlschluss, dass Konflikte der Eltern durch das Doppelresidenzmodell minimiert werden können. Und Kinder leiden, wenn Eltern die Konflikte austragen. Wünschenswert wäre es, Eltern mehr darin zu unterstützen - und zwar bereits vor Einleitung eines Pflegschaftsverfahrens - autonome Lösungen zu schaffen.

STANDARD: Aber spricht das jetzt gegen dieses Wohnsitzmodell?

Pinterits: Wir könnten uns jetzt gegenseitig Studien vorlesen, die einmal in diese und dann in die andere Richtung weisen. Das häufigste Ergebnis ist: Das Modell stellt eine enorme Anforderung an die Eltern dar - und vor allem auch an die Kinder. Es verlangt ein hohes Maß an Kooperation, Kommunikation, Einfühlungsvermögen sowie die Bereitschaft, dem Expartner, der Expartnerin, ein neues Leben inklusive neuem Partner oder neuer Partnerin zuzugestehen. Das setzt ein sehr niedriges Konfliktpotenzial voraus. Sprich: Diese Eltern haben es schon vorher geschafft, gut miteinander umzugehen. Leider gibt es keine Stelle außer den Gerichten, an die sie sich wenden können. Eigentlich sollten dort nur die ganz wenigen "Hardcore"-Fälle landen. Alle anderen gehören in eine Kompetenzstelle - weg vom Gericht.

STANDARD: Und geschieht das?

Pinterits: Nein, im Gegenteil: Die Gerichte sind aufgerüstet worden, eine Familiengerichtshilfe wurde installiert. Diese sollen Clearing betreiben, einvernehmliche Lösungen entwickeln und für die Gerichte tätig sein. Das alles kann die Gerichtshilfe nicht leisten. Daher sehe ich auch keine kindgerechter reagierende Justiz.

STANDARD: Wenn nicht die Gerichte - wer soll dann helfen, Lösungen zu finden?

Pinterits: Das sollen Experten und Expertinnen sein, die an einer vorgelagerten Stelle arbeiten. Die sollen ein Clearing gemeinsam mit den Eltern machen und Informationen anbieten.

STANDARD: Ist die Diskussion über Doppelresidenzen also nur ein Scheingefecht?

Pinterits: Ja, das Gefühl habe ich. Es geht doch in erster Linie nicht um den Wohnsitz. Wissen Sie, das ist alles kein Thema, wenn Eltern miteinander können. Wenn sich beide gut verstehen, dann geschieht es doch eher selten, dass sich dann beispielsweise Konflikte um die Alimente ergeben. Die Frage ist, inwieweit es nötig ist, etwas gesetzlich zu verankern, dass es auch für Leute lebbar ist, die nicht mehr miteinander können.

STANDARD: Wird heute mehr und heftiger vor Gericht gestritten?

Pinterits: Ich bin da ein bisserl in einer komischen Situation, weil bei mir natürlich nur die Fälle landen, wo es massive Schwierigkeiten gibt. Aber es wenden sich immer gleich viele Väter und Mütter an uns, die unzufrieden mit der derzeitigen Situation sind. Eltern müssen erkennen, wie sehr Kinder unter der Situation leiden können: Kinder und Eltern müssen sich derzeit oft mit zig Personen oder Stellen auseinandersetzen - Jugendamt, Familiengerichtshilfe, Besuchsmittlerin/Besuchsmittler, Gutachter und Gutachterinnen etc. Was hier den Kindern oft abverlangt wird, ist sicher nicht zu deren Wohl und stellt für sie eine Überforderung dar. (Peter Mayr, DER STANDARD, 5.11.2014)