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Ein nichtrenoviertes Haus im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg steht neben einem, das nach der Wende hergerichtet wurde.

Foto: AP/Schreiber

"Ich denke an dichte Fenster. Kein anderes Land kann so dichte und so schöne Fenster bauen", antwortete Angela Merkel im November 2004 der "Bild"-Zeitung auf die Frage, welche Empfindungen Deutschland in ihr weckt.

Merkel, die damals noch nicht Kanzlerin war, wurde für diesen Satz noch Jahre später belächelt. Aber wer die Häuser in den Städten der DDR gekannt oder gar in ihnen gelebt hat, der konnte die Beschreibung der in Brandenburg aufgewachsenen Politikerin gut verstehen.

Die kaputten Fenster, Dächer, und Fassaden in Ostdeutschland – sowie in den anderen Ostblockstaaten – waren mehr als nur ein Ärgernis. Sie waren das Sinnbild für alles, was am Kommunismus nicht funktionierte.

Vor allem die undichten Dächer zerstörten über die Jahrzehnte den alten und auch neuen Bestand an Wohnhäusern. Und je mehr Schaden das Wasser anrichtete, desto mehr wandten sich die Menschen vom real existierenden Sozialismus ab.

Der Fall der Mauer vor 25 Jahren war auch die Folge der verrotteten Dächer.

Unausweichliche Folge des Kommunismus

Denn eines verstanden die DDR-Bürger damals: Dieses Elend der Dächer war nicht nur Zeichen einer schlechten Verwaltung, sondern eine unausweichliche Folge der kommunistischen Ideologie. Erstens hatten die Häuser keinen Besitzer, weil Besitz so weit wie möglich abgeschafft war. Und zweitens durfte niemand – auch nicht der Staat – Renditen auf Kapital erwirtschaften. Denn das war laut Karl Marx nämlich das Grundübel des Kapitalismus.

Wenn niemand ein finanzielles Interesse am Werterhalt einer Immobilie hat, dann lässt man sie verwahrlosen. Die Bewohner kümmern sich um ihre eigenen vier Wände, aber nicht um die gemeinschaftlich gehaltenen Gebäudeteile. Vor allem Dächer werden leicht vernachlässigt. Die Schäden sind anfangs kaum sichtbar, dann aber umso zerstörerischer.

Stadt Wien erhält ihre Häuser

Nun kann sich auch eine öffentliche Verwaltung sorgfältig um Wohnhäuser kümmern. Die Stadt Wien agiert hier vorbildhaft. Aber sie tut das in einer Atmosphäre der Verantwortung und Transparenz. Würden die Beamten die Wohnanlagen der Gemeinde verfallen lassen, würde das die regierende SPÖ von den Wählern zu spüren bekommen. Und jeder Mieter kann den Zustand seines Hauses mit denen vergleichen, die von Genossenschaften und privaten Eigentümern verwaltet werden.

Zahlreiche Interviews belegen, dass der Zerfall der Häuser eine der stärksten Quellen für Unzufriedenheit und Zorn in der DDR war, die schließlich zur Wende führten. Und es erklärt auch, warum die Bürger nach dem 9. November nicht einen dritten Weg, einen besseren Sozialismus gesucht haben, sondern die Marktwirtschaft des Westens.

Denn nur die brachte ihnen dichte Fenster und Dächer – und damit schöne und solide Häuser, in denen es sich gut wohnen lässt. Das weiß niemand besser als Angela Merkel. (Eric Frey, derStandard.at, 4.11.2014)