Der Richter, zentrale Figur auch im Film, der den Prozess um rassistisch motivierte Morde in Ungarn dokumentiert.

Filmte "Marathonprozess": Regisseurin Eszter Hajdú.


STANDARD: Wie kam es dazu, dass Sie den Prozess gegen vier Männer, die 2009 mehrere Roma in Ungarn ermordet hatten, so ausführlich begleiteten, dass Sie nun einen erschütternden Dokumentarfilm darüber machen konnten?

Eszter Hajdú: Ich trug mich schon längere Zeit mit dem Gedanken, einen Film über die Diskriminierung der Roma zu machen, fand aber nicht den richtigen Rahmen. Ich lebte in Portugal, und als 2011 der Prozess begann, fuhr ich nach Hause und begann zu drehen. Man sprach von einer Prozessdauer von einem Jahr, schließlich wurden es aber 167 Prozesstage über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren. Ein Marathonprozess.

STANDARD: Die Situation der Roma in Ungarn ist schwierig. Wie stellte sich das Problem für Sie dar?

Hajdú: Als ich vor 15 Jahren studierte, waren Roma unter meinen Kollegen. Wir gingen gemeinsam ganz selbstverständlich in Clubs, feierten. Heute wäre das unmöglich, denn der Rassismus betrifft nicht nur die armen, schlecht ausgebildeten Menschen auf dem Land, sondern trifft genauso Ärzte oder Anwälte. Diskriminierung der Roma ist übrigens nicht nur ein Problem in Ungarn. Und es gibt kein Romaproblem, sondern ein Neonaziproblem. Nicht die Roma müssen etwas gegen ihre Diskriminierung tun, sondern die Allgemeinheit.

STANDARD: Unter welchen Bedingungen haben Sie bei dem Prozess gedreht?

Hajdú: Der Prozess war öffentlich, am ersten und am zweiten Tag und am Tag des Urteils waren viele Kameras da. Den weit überwiegenden Teil der Tage war niemand da, auch keine Journalisten. Wir waren die Einzigen, die filmten. Der Richter begann nach einer Weile, unsere Gegenwart zu respektieren. Wir waren einfach immer da, er ließ uns schließlich die Kamera auch gut positionieren. Wir bekamen auch die Einwilligung aller Zeugen. Alle waren sich bewusst, dass das ein historischer Prozess war, und nachdem wir die Einzigen waren, die ihn dokumentierten, fanden wir Verständnis.

STANDARD: Wie wurde konkret gearbeitet? Es muss eine Art Schichtdienst gegeben haben.

Hajdú: Die ersten eineinhalb Jahre war die Crew sehr klein. Wir drehten ohne Budget, hatten schon 100 Tage gedreht, bevor wir Geld bekamen. Ich war immer dabei, der Kameramann auch, lange Zeit machte ich den Ton, später war das Team etwas größer.

STANDARD: Eine kleine Kamera steht vor dem Richter und filmt den Saal, der überraschend klein ist, aus seiner Perspektive. Diese Kamera gehörte auch zu Ihrem Film?

Hajdú: Ja. Der Richter ließ es nach einer Weile zu, dass wir die dort hinstellten.

STANDARD: Sein Verhalten ist oft merkwürdig.

Hajdú: Zu Beginn war ich nicht sicher, was ich von ihm halten sollte. Er ist eine sehr kontroverse Figur, sehr komplex, sehr leidenschaftlich, er ging manchmal ziemlich rau um mit den Zeugen, schnauzte sie an, verhängte Bußgelder. Ich war schockiert. Aber er war sehr allein mit diesem Fall, und er wollte wirklich die Wahrheit herausfinden. Am Ende konnte ich das besser wertschätzen. In der Tschechischen Republik wurde ein Richter in einem ähnlichen Verfahren ermordet.

STANDARD: Wie schneidet man so einen Film?

Hajdú: Zu Beginn musste ich herausfinden, ob ich auch Szenen von außerhalb des Gerichts verwenden wollte. Ich wollte aber nicht zu viel erklären und entschloss mich dagegen. Interviews, die ich auch drehte, hätten eine Form von emotionaler Manipulation mit sich gebracht. Das Publikum sollte aber aufgrund der Ereignisse im Gericht sein Urteil bilden. Wir drehten mehr als 2500 Stunden, geschnitten wurde parallel. Wir wollten möglichst bald nach dem Urteil fertig sein, mit dem Film nicht zu spät kommen.

STANDARD: Viele Szenen, vor allem Zeugenaussagen der Verwandten der Opfer, sind ungeheuer intensiv und schwer zu verkraften. Wie gingen Sie persönlich damit um?

Hajdú: Es war alles sehr emotional, wenn zum Beispiel eine Mutter, die einen vierjährigen Sohn verloren hat, den Tätern gegenübersteht. Während des Drehens versuchte ich das so zu behandeln, als wäre es nicht real passiert. Aber nach der Fertigstellung verlor ich diese Distanz. Es kam eine sehr schwierige Phase, ich war eine Weile ziemlich depressiv.

STANDARD: Inwiefern haben wir es hier mit einem spezifisch ungarischen Problem zu tun?

Hajdú: Ich glaube, es ist nicht nur ein ungarisches Problem. Hate Crimes gibt es überall, in Osteuropa gibt es diese Diskriminierung in vielen Ländern. Und auch in Deutschland gibt es einen vergleichbaren Fall rund um die NSU. Die Polizei machte die gleichen Fehler. In einer Gesellschaft mit Vorurteilen sind auch die Polizei oder die Rettungskräfte betroffen, sie teilen die Vorurteile.

STANDARD: Als "Judgment in Hungary" kürzlich in Berlin gezeigt wurde, kam es zu massiven Versuchen, im Saal Stimmung gegen den Film zu machen.

Hajdú: Das war zum ersten Mal, fast ein Jahr nach der Premiere. Es war schockierend, denn ich wollte einen allgemein gültigen Film machen, keinen über ungarische Politik.

STANDARD: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem Klima, in dem die Täter agierten, und der Richtung, in die Ungarn unter Orbán geht?

Hajdú: Die Neonazis sind in Ungarn schon lange stark, und die Morde geschahen auch noch unter einer anderen Regierung. Es gibt einen historischen Kontext in der ungarischen Rechten, der viel älter ist. Zu politischen Dingen im engeren Sinn versuche ich mich nicht zu äußern, als Dokumentaristin möchte ich nicht einer Seite zugerechnet werden. Aber die Atmosphäre in Ungarn ist schlimm, wir verabschieden uns mehr und mehr von einer modernen, multikulturellen Gesellschaft. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 4.11.2014)